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„Keine Versäumnisse“

■ In der BRD kam es 1988 zu einem Vergleich zwischen Pharmaunternehmen und infizierten Blutern

Berlin (taz) — Auch in der Bundesrepublik sind 1.400 Bluter seit Beginn der 80er Jahre durch Gerinnungsmittel mit dem HIV-Virus infiziert worden. Doch anders als in Frankreich haben sich die Betroffenen gegen einen langwierigen Prozeß entschieden. 1988 kam es statt dessen zu einem Vergleich mit den Pharmaunternehmen.

„Wir wollten eine schnelle Entschädigung, das heißt, wir haben unter Todesangst einen Vergleich abgeschlossen, und der war unzureichend“, sagt Herbert Esdar, Vorsitzender der Deutschen Hämophilie-Gesellschaft (DHG), die die Interessen der Bluter vertritt. Zwischen 30.000 und 80.000 Mark Abfindung erhielten die Opfer, bemessen wurde sie je nach der Höhe ihres Einkommens. Zum Vergleich: Bei einer Querschnittslähmung zahlen Versicherungen 320.000 Mark Schmerzensgeld.

Die Abfindung fiel so gering aus, weil keinem der Betroffenen der Nachweis gelang, daß er sich durch ein bestimmtes Präparat und erst nach 1983 infiziert hat, einem Zeitpunkt, als das Risiko der Übertragung bereits bekannt war. „Wir haben damals geglaubt, daß die Infizierten sehr schnell sterben. Dann stellte sich heraus, daß sie länger am Leben bleiben. Die Entschädigungen wurden also unter falschen Voraussetzungen gemacht“, beklagt Herbert Esdar. „Wir haben damals nicht gewußt, was mit dieser Krankheit auf uns zukommt.“ Im Gegenzug für die Abfindung mußten die Betroffenen damals erklären, auf den Rechtsweg zu verzichten.

Warum bemühen sich die Infizierten heute nicht um Nachverhandlungen? „Sie sind gesundheitlich angeschlagen. Wer hat da noch die Kraft, den Rechtsweg einzuschlagen?“ so Esdar. „Das würde ein Spießrutenlaufen.“ Die Angst vor gesellschaftlicher Ächtung ist groß. Dennoch will ein Mitglied der DHG demnächst eine Zivilklage anstrengen, von der Esdar hofft, daß sie zum Präzedenzfall wird.

342 der infizierten Bluter sind bisher an Aids gestorben. Auch in der Bundesrepublik wurde die Frage aufgeworfen, ob Gegenmaßnahmen zu spät ergriffen wurden. Der Spiegel warf dem Bundesgesundheitsamt (BGA) 1991 vor, die HIV-haltigen Medikamente viel zu spät verboten zu haben. Die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Berlin hatte dagegen 1990 festgestellt, dem BGA seien „keine Versäumnisse“ anzulasten. Das Ermittlungsverfahren wurde eingestellt. Dorothee Winden

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