piwik no script img

Als ich meinen Vater zum letztenmal sah

Ich kam nach Hause nach einer Reise von drei Jahren, die ich gemacht hatte, um die Welt zu entdecken. In den sechziger Jahren war es nichts Ungewöhnliches, daß Kids ihr Zuhause verließen, um das Leben und „love and peace“ kennenzulernen. Ich ging weg — zur Enttäuschung meiner Eltern, vor allem meines Vaters. Ich kam zurück mit langen Harren und massig Lebenserfahrung. Ich wurde begrüßt von meiner Mutter, meinen Schwestern und Brüdern, und wir redeten stundenlang, bis mein Vater von der Arbeit nach Hause kam.

Als er in der Tür stand, sah ich, daß dieser Mann, der früher so groß aussah, jetzt graues Haar hatte und ganz zerbrechlich aussah. Ich stand auf, wir umarmen uns, reden beide kein Wort. Dann ging er runter zu seiner Werkstatt, in der alles stand, was ihm auf dieser Welt wichtig war. Mein Vater ist ein Meister in Holzarbeiten; seine Liebe zum Holz war in der ganzen Stadt und darüber hinaus bekannt. Ich teilte diese Liebe nicht, und das ärgerte ihn. Ich konnte wohl schnitzen, aber ich hatte nicht das Feuer, das in ihm brannte. Eine Familientradition seit vier Generationen. Als Junge ging ich oft mit ihm runter und ackerte stundenlang, und wenn ich fertig war, zeigte ich ihm, was ich gemacht hatte, aber alles, was er sagte, war: „Da hättest du dies oder das noch machen können.“ Nie zufrieden. Statt mir ständig seine Kritik anzuhören, ging ich eben nicht mehr runter.

Auf meiner Reise hatte ich einen alten Indianer aus New Mexico getroffen. Er schnitzte auch, und während ich da war, fing ich auch wieder an, und als ich fertig war, hatte ich einen riesigen, glatzköpfigen Adler geschnitzt. Später bot mir ein Mann in Houston, Texas, 1.500 Dollar dafür. Darauf war ich sehr stolz. Aber er war nicht zu verkaufen.

So kam ich also nach Hause, fünf Tage vor Weihnachten, um meine Familie und Freunde wiederzusehen und mein altes Leben wieder aufzunehmen. Abends waren alle im Wohnzimmer und hörten mir zu, wie ich von meinen Fahrten erzählte, fragten mich aus und lachten, außer meinem Vater, der nur zuhörte und selber kein Wort sagte. Heiligabend gingen wir alle zusammen zur Mitternachtsmesse, wo viele seiner Arbeiten waren. Ein riesiges Kruzifix hing an der Wand hinter dem Altar. Es ist ganz großartig. Ich hatte viele Geschenke, Sachen, die ich auf meinen Reisen gesammelt hatte, und alle genossen den Moment. Das letzte Geschenk war der kahle Adler für meinen Dad. Als ich ihn überreichte, standen wir beide auf, ich stolz auf meine Arbeit, er verblüfft. Er nahm das Schnitzwerk in seine großen Hände, bewunderte es. Er guckte mich mit feuchten Augen an. Dann drehte er sich um, hob es bis ganz hoch über seinen Kopf und warf es mit aller Kraft an die gegenüberliegende Wand. Jeder war erschrocken, die Kinder weinten, und meine Mutter schrie: „Was machst du da?“ Er drehte sich wieder um und sah mir ins Gesicht und sagte: „Ich hoffe, es tut dir genauso weh, wie's mir jeden Tag weh getan hat, seit du weggegangen bist.“ Dann ging er aus dem Zimmer und runter in seine Werkstatt.

Ich kriegte kein Wort raus. Ich ging in mein Zimmer, ganz verwirrt. Später, ich guckte nur aus dem Fenster, der Schnee fiel, Leute sangen und lachten, tönte ein lauter Schrei durch das ganze Haus, so daß jeder ganz sprachlos war. Ich rannte aus meinem Zimmer, kam die Treppe runter, und der Schreck stand jedem ins Gesicht geschrieben. Mein Vater lag neben seiner Bank in der Werkstatt, meine Mutter weinte und sagte mit leiser Stimme: „Dein Vater ist tot.“ Im Krankenhaus fanden wir später heraus, daß er einen schweren Herzinfarkt hatte. Heute steht über dem Kamin der Wohnung meiner Mutter die Plastik von einem kahlen Adler mit einem gebrochenen Flügel und mit den Worten „Tragische Reise“. So ist also mein Vater am Morgen von Jesu Geburt verschieden. Es war das letztemal, daß ich meinen Vater sah. Michael Thompson

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen