„Nicht um jeden Job kämpfen“

■ Interview mit Walter Riester, Bezirksleiter der größten Einzelgewerkschaft IG Metall in Stuttgart/ Der 48jährige wird als Nachfolger des IG-Metall-Vorsitzenden Franz Steinkühler gehandelt/ Riester fordert eine dialogorientierte Wirtschaftspolitik

taz: Die Bundesregierung will zur Finanzierung der Pflegeversichung einen Karenztag einführen. Die Gewerkschaften sind damit gar nicht einverstanden. Kommt es zu einem heißen Herbst?

Walter Riester: Weitere Einschnitte in das Sozialsystem werden wir nicht mittragen. Unsere Mitglieder und Funktionäre haben klargemacht, daß der Rubikon überschritten ist, wenn es an die Lohnfortzahlungen geht. Ich finde es gut, daß Franz Steinkühler dazu aufgerufen hat, diesen Protest jetzt auch deutlich zu zeigen. Wir lehnen eine Mitfinanzierung der Pflegeversicherung nicht generell ab, aber wir akzeptieren nicht, daß die Kranken sie bezahlen.

Im Osten bricht alles zusammen, im Westen geht es an den materiellen Besitzstand — doch wie es aussieht, wollen die Gewerkschaften ihre Klientel nicht schröpfen lassen.

Ich glaube nicht, daß wir uns Vorwürfe machen müssen. Bei all den Steuererhöhungen und Abgaben sind es die Arbeitnehmer gewesen, die den größten Teil der Last zu tragen hatten.

Nun hat aber auch der DGB das Lied vom Teilen angestimmt. Müssen die Gewerkschaften in Ost und West nicht auch an einer gemeinsamen sozialen Identität arbeiten?

Es muß uns mehr als bisher gelingen, unsere Mitglieder im Osten und im Westen näher zusammenzubringen. Ihr Verhalten, ihre Anliegen, ihre Forderungen sind ganz unterschiedlich, weil sie sich in ganz verschiedenen Lebenslagen befinden. Wir haben bislang nur darauf reagiert. Ein Beispiel: Unsere Mitlieder im Osten fordern zu Recht, daß wir etwas unternehmen, damit die durch den De- Industrialisierungsprozeß entstandene nackte Arbeitslosigkeit abgefedert wird. Die Mitglieder im Westen haben den größten Teil der Transferleistungen in den Osten finanziert und sehen ihre Leistungsfähigkeit erschöpft. Wenn diese Finanzierung so notwenig ist, wie auch wir es darstellen, dann muß sie vor allem von den Leistungsstärkeren erbracht werden. Das stößt dort an Grenzen, wo wir nicht in der Lage sind, die Stärkeren dazu zu zwingen.

Aber die Menschen im Osten kommen immer noch zu kurz, und der Schaffung einheitlicher Lebensverhältnisse in Deutschland läuft die Zeit davon. Kann man sich da als Gewerkschaft weiter verweigern und abwarten, bis die Regierung ihr Scheitern eingesteht?

Ich kann nicht erkennen, wo sich die Gewerkschaften verweigern. Wer hat denn die Lohnsubventionen für Kurzarbeitsregelungen, AB-Maßnahmen oder Beschäftigungsgesellschaften im Osten gefordert, damit der Lebensstandard dort nicht noch weiter absinkt und Millionen vor dem Nichts stehen — das war doch nicht die Regierung! Es waren die Gewerkschaften, die sich dafür eingesetzt haben. Das kostet natürlich die Milliarden, die im Westen finanziert werden müssen. Wir müssen vermitteln, daß das Geld notwendig ist — und das tun wir auch. Wer bemüht sich denn darum, daß Arbeitsplätze erhalten und nicht einfach von der Treuhand verscheuert werden? Wir haben ein Konzept für Industrieholdings unter dem Dach der Treuhand erstellt, um zu einer systematischen Sanierung überlebensfähiger Betriebe zu kommen — wir sind damit abgeschmettert worden, weil wir nicht die Macht hatten, das durchzusetzen. Ich sehe sonst überhaupt keine Kraft, die sich darum bemüht, daß der Erosionsprozeß gestoppt und Strukturmaßnahmen entwickelt werden.

Lohnverzicht schafft keine Arbeitsplätze

Nun müssen sich die Gewerkschaften aber vorhalten lassen, mit überzogenen Prozentforderungen in die Tarifrunde 1992 gegangen zu sein.

Das ist schon richtig. Die Abschlüsse werden vieleicht die Preissteigerung ausgleichen — eine Umverteilung ist dadurch aber nicht erfolgt. Hinzu kommt, daß Lohnverzicht keine Arbeitsplätze schafft. Ich sehe keinen einzigen Unternehmer, der im Falle eines Lohnverzichts im Osten investiert hätte. Und mit der Ankoppelung der Löhne im Osten an die West-Entwicklung partizipieren die Menschen im Osten an den Vorraussetzungen, die wir im Westen zur Durchsetzung unserer Forderungen noch haben. Ich halte das für eine richtige gewerkschaftliche Linie.

Die meisten Menschen im Westen hatten sich von der Lohnrunde noch mehr erwartet. Hat der Vertrauensverlust der BürgerInnen in die politische Klasse inzwischen auch die Gewerkschaften erreicht?

Die Gefahr ist zweifelsohne da, man merkt es am deutlichsten in Tarifrunden. Wir spüren beispielsweise, daß schon bei der Erstellung der Forderungen die Spannungen und Auseinandersetzungen deutlich zugenommen haben. Es wird zunehmend schwieriger, etwa die Durchsetzungbedingungen einer Tarifforderung realistisch aufzuzeigen. Schon unsere Forderung von 9,5 Prozent, nach langen Diskussionen beschlossen, ist von vielen Mitgliedern und Funktionären noch als zu niedriges Signal angesehen worden. Bei den Verhandlungen, die ich selbst geführt habe, standen wir kurz vor dem Bruch und somit vor einem Arbeitskampf — das Volumen von 5,8Prozent, das wir vereinbart haben, war das Optimale, das unter diesen Verhandlungsbedingungen zu erreichen war. Aber es ist nicht einfach, das zu vermitteln.

Wie lange kann an der Wohlstandsschraube noch gedreht werden?

Ich kann nicht erkennen, daß an der Wohlstandsschraube zugunsten der Beschäftigten gedreht wird. Es gibt ganz andere Profiteure am deutschen Einigungsprozeß: Das sind die Unternehmer, denen der Kaufkraftschub volle Auftragsbücher und riesige Gewinne beschert hat sowie diejenigen Firmen, die von den Subventionsmillionen des Staates profitieren. Jede Investition im Osten wird bis zu zwei Drittel über Steuergelder subventioniert. Wo bleiben die Entscheidungen, diese Zusatzgewinne abzutragen und mit Sondersteuern zu belegen?

Alle in einem Boot — hilft nur eine konzertierte Aktion weiter?

Davon halten wir nichts, nach all den Erfahrungen, die wir damit in der Vergangenheit gemacht haben. Wer wie Möllemann erklärt, er sei dafür, die IG Metall arm zu streiken, kann doch nicht annehmen, daß wir mit ihm eine konzertierte Aktion eingehen. Aber es muß eine abgestimmtere Politik geben.

Wir haben eine ganze Menge Vorschläge eingebracht, laufen damit aber bei der Regierung immer gegen eine Wand. In einer dialogorientierten Wirtschaftspolitik, wo Unternehmerverbände, Gewerkschaften und andere gesellschaftliche Kräfte zur Problemlösung zusammengezogen werden, würde ich durchaus Chancen sehen.

Sehen sich die Gewerkschaften in die Rolle einer Ersatzopposition gedrängt?

Wir kommen zunehmend in diese Rolle und ich denke, es ist nicht gut, weil das nicht die Aufgabe der Gewerkschaften sein kann. Doch viele Kräfte im politischen Bereich, von der Regierung bis zu den Parteien, so scheint es, sind schlicht überfordert.

Sie fordern aber eine Umkehr in der Industrie- und Strukturpolitik.

In der Entwicklung, in der wir stehen, müssen zwei Ebenen gestärkt werden: die regionale und die internationale. Industriepolitik darf sich nicht nur auf der Ebene von Nationalstaaten und der EG verfangen, sondern muß dort ansetzen, wo sie von den Menschen mitvollziehbar und mitgestaltbar ist — und das ist die Region.

Nun wird immer wieder zu Recht kritisiert, daß sich strukturpolitische Konzepte reaktiv an überkommenen Strukturen orientieren — wie beispielsweise im Bergbau, der Stahlindustrie oder den Werften.

Aus industriepolitischen Überlegungen heraus teile ich diese Kritik. Doch hier sind wir mit dem gleichen Problem konfrontiert, vor dem wir in den neuen Bundesländern stehen: Daß dieser schmerzliche Umbruch für viele Menschen zeitlich befristete Schutzmaßnahmen erfordert, die vernünftigen industriepolitischen Konzepten entgegenstehen. Im Bergbau ist die Zeit schon längst überschritten, hier hätten viel früher aktive Schritte eingeleitet werden müssen — das gilt auch für Teile der Stahl- und Werftindustrie. Die meisten Maßnahmen unternehmen ja den Versuch, den Prozeß des strukturellen Wandels abzumildern — denn für die Menschen wäre die Alternative nur die Arbeitslosigkeit. Doch es ist keine Frage, daß der Strukturwandel noch mehr aktiv beschleunigt werden muß.

Wie soll das vor sich gehen?

Nehmen wir die Automobilindustrie, die die nächste Krisenbranche sein wird. Ich bin froh, daß die IG Metall sehr früh ein umfassendes Konzept für Auto, Umwelt und Verkehr aufgelegt hat, an dem weitergearbeitet und noch viele Dinge verbessert werden müssen. Die großen Konzerne haben bereits einen massiven Arbeitsplatzabbau angekündigt, bei dem es nicht bleiben wird. Mit der Reorganisation der eigenen Strukturen in der Automobilindustrie wird es zu einer erheblichen Beschäftigungsreduzierung kommen, die bei weitem das Ausmaß der Stahl- und Werftindustrie überschreitet. Das ist aus meiner Sicht ein notwendiger Prozeß. Aber es müssen möglichst gleichzeitig neue Strukturen für Beschäftigte aufgebaut werden, damit die Menschen nicht durch den Rost fallen.

Aus der Altindustrie Automobilbau läßt sich aber kein modernes Schmuckstück machen.

Mercedes will ein breites Netz für das Auto-Recycling aufbauen. Das ist freilich nur ein kleines Beispiel, wo aus bestehenden Strukturen heraus neue Impulse kommen können. Ich habe aber meine Zweifel, ob sich alles aus der Altindustrie heraus realisieren läßt. Es müssen neue Perspektiven erschlossen werden. Es kann, wie ich meine, auch nicht unser Interesse sein, daß etwa die Länder Osteuropas, die noch nicht so stark automobilisiert sind, nun mit Autos überflutet werden. Das ist ökologisch gesehen ohnehin nicht wünschenswert.

Wo liegen dann die neuen Märkte?

In Osteuropa wird durch die zweite Industrialisierung eine riesige Nachfrage entstehen — das ist eine Herausforderung für den deutschen Maschinen- und Anlagenbau. Eine ähnliche Dimension hat der gigantische Bedarf, zerstörte Umwelt wieder lebenswert zu machen. Hier müssen Strukturen aufgebaut werden und nicht, wie bisher, weiter Strukturpolitik ins Blaue hinein betrieben werden. Und es muß über einen bestimmten Zeitraum auch eine Subventionierung dieses Prozesses angelegt werden. Hier müssen gezielt Schwerpunkte gesetzt werden. Umstellungsprozesse sind ungeheuer schwierig und langwierig, aber man muß sie jetzt angehen.

Mercedes entwickelt beispielsweise mit „Storm“ ein integriertes Verkehrskonzept für Großstädte und Ballungszentren, das in Stuttgart und Berlin Anwendung finden soll. Ich weiß nicht, was die da machen, aber das ist nicht mein Problem. Ich frage mich vielmehr, warum die Planer nicht einmal ein Hearing veranstalten, wo sie die Menschen fragen, wo sie den Bedarf sehen und welche Anforderungen sie an ein solches Verkehrssystem stellen. Es krankt daran, daß bei uns kaum eine beteiligungsorientierte Entwicklung von Projekten angegangen wird.

Konversions- und Diversifizierungsstrategien sind, wie sich immer wieder zeigt, bei den Unternehmen aber Mangelware. Statt dessen wird, wie jetzt beim abgestürzten Jäger90, nach dem Staat gerufen.

Die Dasa hat zu lange unwidersprochen die Aufträge in Aussicht gestellt bekommen. Da wurden Mittel gebunden, die Forschung und Entwicklung ausgerichtet — hier muß die Politik einfach früher Entscheidungen treffen. So lange sie das nicht tut, werden sich die Unternehmen den lukrativsten Weg aussuchen. Die Umstellungsprozesse in den Unternehmen, die Rüstungsgüter produzieren, dauern Jahre. Wenn sie bald Wirkung zeigen sollen, müssen sie jetzt stärker angegangen werden.

Gibt es über den beschleunigten Strukturwandel hinaus noch weitere Ansatzpunkte?

Die Bundesrepublik hat als Industriestandort vor allem Chancen bei der Entwicklung von Gütern und Dienstleistungen mit hoher Wertschöpfung. Doch über die Hälfte der in der gewerblichen Industrie beschäftigten Menschen haben keine Berufsausbildung — ein Großteil davon sind Frauen und ausländische Mitbürger. Wir müssen also den Qualifizierungsprozeß verstärken, damit diese Menschen nicht auf Dauer rausfallen.

In Baden-Württemberg haben wir 1988 einen Tarifvertrag abgeschlossen, der jedes Metallunternehmen verpflichtet, jährlich seinen Qualifikationsbedarf zu ermitteln und dann die MitarbeiterInnen systematisch während der Arbeitszeit unter Bezahlung auszubilden — doch der Tarifvertrag wird kaum eingehalten. Das wäre ein Ansatzpunkt für dialogorientierte Wirtschaftspolitik. Wir haben die Ressourcen — sie müssen nur entsprechend eingesetzt werden.

Nun sind die meisten Gewerkschaftsmitglieder nicht gerade der Meinung, ihre Interessenvertretung müsse den Unternehmen die Arbeit abnehmen. Sie verlangen die Durchsetzung höherer Löhne und einen Schutz gegen das Arbeitsplatzrisiko. Was müssen die Gewerkschaften unternehmen, um nicht zum Versicherungsunternehmen degradiert zu werden?

Ich würde das nicht so mit einem negativen Unterton sehen. Es ist absolut legitim, daß Menschen in eine Gewerkschaft gehen, um Unterstützung bei der Absicherung ihrer Löhne und Arbeitsbedingungen zu bekommen. Aus idealitischen oder ideologischen Gründen gehen die wenigsten Menschen in eine Gewerkschaft. Darüber hinaus gibt es natürlich Dinge, die eine Gewerkschaft angehen muß, weil sie auch zu den Arbeits- und Lebensbedingungen gehören — beispielsweise Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, bewußtes Produzieren, um die Umwelt nicht zu belasten, mehr Zeitsouveränität für die Beschäftigten.

Wir haben in Baden- Württemberg seit vier Jahren etwa einen zentralen Schwerpunkt auf den Umweltschutz gelegt — etwa mit der Aktion „Tatort Betrieb“, wo wir die Probleme des Gefahrstoffeinsatzes und der Schadstoffe im Betrieb systematisch angegangen sind. Damit haben wir bei vielen Mitgliedern ein Umweltbewußtsein sensibilisiert. Nun wollen wir gemeinsam mit Wissenschaftlern ein Konzept zur Sondermüllvermeidung entwickeln. Natürlich ist mir klar, daß man nicht in eine Gewerkschaft geht, weil man Umweltaktionen machen will. Aber es ist Aufgabe der Gewerkschaften, für den Bereich Umweltschutz die Kraft einzusetzen, die sie hat.

Braucht es dazu nicht auch ein politisches Mandat?

Dieses Mandat nimmt sie sich ja auch zum Teil. Heute ist die IG Metall eine Adresse, mit der man spricht und deren Unterstützung man sucht — auch bei Umweltfragen. Ob Branchenprobleme oder Strukturpolitik — niemand hat das in den letzten Jahren so stark thematisiert wie wir, jedenfalls kein Verband und keine Partei. Da wächst einem doch ein politisches Mandat zu. Was können Gewerkschaften darüber hinaus machen? Es gibt viele Funktionäre, die große Erklärungen abgeben. Wir müssen viel weiter unten anfangen. Es gibt eine Stimmung, die man gemeinhin den Gewerkschaften nicht zu Unrecht nachgesagt hat, unter dem Primat der Arbeitsplätze werde alles in Kauf genommen. Ich habe vor vier Jahren, damals für viele unverständlich, einmal provokativ erklärt, daß eine Gewerkschaft nicht um jeden Arbeitsplatz kämpfen muß. Nicht zuletzt deshalb, weil wir ein Ungleichgewicht an Beschäftigung in der Welt, in Europa und neuerdings sogar in Deutschland haben. Solche Diskussionen müssen provoziert werden, weil sie nicht selbstverständlich sind.

Interview: Erwin Single