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Aus labiler Solidarität wurde offene Abneigung

■ Seit über zwei Jahren hören sich alteingesessene Bundesbürger die immer lauter werdenden Klagen ihrer Mitbürger aus dem Osten an - und reagieren in zunehmendem Maße mit offener...

Aus labiler Solidarität wurde offene Abneigung Seit über zwei Jahren hören sich alteingesessene Bundesbürger die immer lauter werdenden Klagen ihrer Mitbürger aus dem Osten an — und reagieren in zunehmendem Maße mit offener Feindseligkeit auf das „Genörgel der Ossis“.

VON EVA SCHWEITZER

Nachts, auf der Autobahn, kurz vor dem Hermsdorfer Kreuz in Richtung Berlin. Seit Stunden quält sich unser kleiner Golf durch den obligaten Sonntagsstau, eingeklemmt zwischen Fünf- Liter-BWMs und ebensolchen Daimler-Benz-Karossen — alle mit Ost- oder zumindest Berliner Kennzeichen. Martins Laune ist auf dem Nullpunkt. „Diese Ostler müßten Transitverbot kriegen“, flucht er, als sich ein Porsche Carrera aus Potsdam vor uns drängelt. „Schließlich haben wir die Straßen bezahlt, und jetzt stehen wir mit denen im Stau.“

Martin ist Versicherungsvertreter aus Berlin, seit einen halben Jahr arbeitet er im Ostteil der Stadt — sozusagen zwangsversetzt. Seine Firma hat ihn dahin geschickt, wo die Märkte locken, und dem konnte sich auch Martin nicht verschließen. Zudem ihm bedeutet wurde, daß es ansonsten genügend andere junge Männer gebe — in welchem Fall man seiner Mitarbeit also nicht mehr bedürfe. Immerhin darf er im Westen wohnen bleiben. Neulich wäre es fast noch schlimmer gekommen: Seine Firma wollte ihn als Büroleiter nach Leipzig versetzen. Daraufhin wollte sich Martin ein Funktelefon besorgen und so, regelmäßig die Zentrale anrufend, seine Anwesenheit im Leipziger Büro vortäuschen. Nur mit Mühe konnte er davon überzeugt werden, daß das auffliegen würde.

Martin ist ein — zugegebenermaßen — krasser Fall von Ossiphobie, aber er ist nicht allein.

Seit nunmehr zwei Jahren hören sich Wessis mit zunehmendem Widerwillen die immer lauter werdenden Klagen der Brüder und Schwestern aus der Ex-DDR an. Mehr und mehr brechen sich Ressentiments Bahn — vor allem unter Westberlinern.

Für 46 Prozent der Westdeutschen sind die Folgen des Beitritts der DDR ein Grund zur Sorge, ermittelte im Juni das Allensbach-Institut. Runde 35 Prozent der Westberliner wünschen sich gar die Mauer zurück, stellte kürzlich die Berliner Abendschau fest — weitaus mehr als im Ostteil der Stadt. Bei dem Berliner „Komitee für Gerechtigkeit“ kommen ein Drittel der Anrufe aus der ehemaligen Frontstadt der freien Welt — von Menschen, die sich nicht unbedingt mit dem Osten solidarisieren wollen, sondern weit eher ihre eigenen Sorgen vorbringen.

Westberliner Tageszeitungen erleiden zur Zeit massive Auflageneinbrüche, weil sie sich nach Meinung ihrer West-Leser zuviel um Ostprobleme kümmern.

Aus dem gleichen Grund bekommt der Berliner Mieterverein wütende Kündigungsschreiben von ihren Westberliner Mitgliedern. Und Westberliner, die es sich leisten können, suchen sich inzwischen gerne Ausflugslokale, die Ossis zu teuer sind. Dafür haben, nach der ersten Euphorie, die Ausflüge ins Umland spürbar nachgelassen: Havel und Wannsee sind wieder angesagt.

Betroffen fühlen sich nicht nur die Wessis, die gezwungen werden, fernab der Heimat in dubiosen Arbeitsbeschaffungsprogrammen ihr Geld zu verdienen. Sauer sind auch die, die bei weit überhöhten Preisen zur Untermiete in Ostwohnungen abgedrängt wurden, während es sich der Osthauptmieter gutgehen läßt; in Westberlin haben sich die Mieten in den letzten Jahren verdreifacht, dies allerdings nicht von Null an, wie im Ostteil der Stadt, sondern von zeitgemäßen Preisen aus. Verärgert sind auch und vor allem jene Westberliner, die sich zu Mauerzeiten mit Aushilfejobs über Wasser halten konnten, während nun die Konkurrenz aus dem Osten den Platz hinterm Tresen oder auf dem Kutschbock einnimmt. Denn die Ostler beziehen oft genug staatliche Unterstützung und sind daher in der Lage, Niedriglöhne im Westen noch zu unterbieten. Nicht zufällig ist Westberlin die einzige (west-)deutsche Stadt, in der die Arbeitslosigkeit nach dem Fall der Mauer nahezu auf Ost-Niveau gestiegen ist (siehe Kasten).

Ossis lieben all das, was Linke bekämpfen

Besonderen Hang zur Klage haben die Westberliner Linken und die Kreuzberger Szene. Und das nicht nur, weil die Senatszuschüsse für Projekte und Stellen seit der Maueröffnung sukzessive wegfallen. Zerstört wurde durch das Zusammenwachsen der Stadt auch das einzig real existierende quasi-sozialistische Paradies, in dem Geld wenig und Solidarität viel galt, wo neue Lebensformen und Freiräume im Schatten der Mauer erkämpft worden waren, wo Ausländer und Deutsche, Müslis, Mollis und Normalos mit wenig Berührung, aber relativ problemfrei zusammenlebten, kurz: Das Besondere, das Westberlin immer von Westdeutschland unterschieden hat, ist passé. Zu allem Überfluß liebt der Ostler alles, was die Szene bislang bekämpft hat, vom Beate-Uhse-Shop bis zur Stadtautobahn, kurz: die Marktwirtschaft, die die Ossis zu 60 Prozent in Form von CDU und FDP wählten. Damit fielen sie der linken Szene, die seit jeher etwa gegen Spekulanten und Kapitalistenbosse mobil macht, quasi moralisch in den Rücken. Um so befremdlicher klingen in linken Ohren im nachhinein die Klagen über die Nachteile der Marktwirtschaft. „Ossis müssen doof sein“, meint Udo, Verwaltungsangestellter aus Kreuzberg, „da haben die nun meterweise Marxismus und Leninismus gelernt, und fallen trotzdem aus allen Wolken, daß es im Kapitalismus Arbeitslose gibt.“

Auch der Westberliner, der gut ausgebildet in Lohn und Brot ist, reibt sich heute verwundert die Augen: Plötzlich arbeitet er sehr viel mehr als zuvor, ohne daß sich das verfügbare Einkommen nennenswert vergrößert hätte — um von anderen Widrigkeiten, mehr Verkehr auf der Straße und mehr Kriminalität in der S-Bahn, gar nicht erst zu reden. So gilt es inzwischen als Beweis besonderen Muts, als Wessi nachts alleine mit der S-Bahn in die Trabantenstädte Marzahn oder Hellersdorf zu fahren. Die Abneigung gegen Ossis manifestiert sich inzwischen in allen politischen Schichten. Den Rechten paßt es nicht, daß „wir jedes Jahr 200 Milliarden Mark in den Osten schaufeln, und dann wählen 30 Prozent von denen die PDS“ — so eine häufig gehörte Klage.

In Bonn beklagten die seit einem Jahr gegen den Hauptstadtumzug protestierenden „Donnerstagsdemonstranten“, daß der Marshallplan jeden Westdeutschen auf heutige Verhältnisse umgerechnet nur 600 Mark gebracht habe, während jeder Ostdeutsche 3.000 Mark jährlich aus dem Staatssäckel bekomme. Vor allem vermissen die Konservativen bei den Ossis genügend Dankbarkeit für die vielen Wohltaten: „Jetzt werfen wir das Geld schon aus Flugzeugen ab, und die sind zu faul, es aufzuheben“, sprach der Kabarettist Dieter Hildebrandt im ARD-Scheibenwischer. Und man ist sich nicht sicher, ob er es ernst meint oder einen typischen Wessi mimt.

Kein Ventil für schlechte Stimmung

Vollends bedrohlich wirkt der Ossi durch seine kaum zu leugnende Ausländerfeindlichkeit, von der offensichtlich alle Schichten der Bevölkerung berührt werden, ohne daß sich auch nur einer der populären Ostpolitiker oder Kirchenmänner in nennenswerter Lautstärke dagegen erhoben hätte.

Bei zarter besaiteten Westberlinern ruft dies bisweilen sogar Existenzängste hervor. Die beifallklatschenden Hausfrauen in Hoyerswerda, die steinewerfenden und prügelnden Männer in Leipzig und Dresden und die wegschauenden Polizisten in Eberswalde kosten die Ossis insgesamt vermutlich mehr Sympathiepunkte als alle Stasi-Enthüllungen zusammen.

Der schlechten Stimmung in Westberlin wird kaum ein Ventil geboten, denn der durchschnittliche Wessi ist zu Sprachlosigkeit verdammt. Was dem klagenden Ossi — zu Recht — dezimeterlange Spalten in der Presse beschert, wird dem Wessi als Weinerlichkeit und Verwöhntheit ausgelegt, ob es nun die steigenden Mieten oder die gleichbleibend hohe Arbeitslosigkeit ist. Dazu kommt, daß sich zumindest die linken Westberliner — im Gegensatz zu den DDR-Bürgern, die die Wende immerhin mitverantworlich herbeigeführt haben — unschuldig an ihrer Misere fühlen. „Wir sind nicht auf der Straße gestanden und haben geschrien: Wir sind ein Volk“, sagt der Kreuzberger Udo. Vor diesem Hintergrund stoßen die — an sich berechtigten — Wünsche der Ostdeutschen, Eigenes in den gemeinsamen Staat einbringen zu wollen, auf eine zähe Ablehnung. Habe man die Wiedervereinigung etwa gewollt?

„Dann baut doch die Mauer wieder auf...“

Eine wesentliche Quelle, aus der sich die Abneigung gegen Ostdeutsche heute speist, ist das fortwährende Lamento der neuen Mitbürger. Tatsächlich nehmen die Klagen der Ossis inzwischen recht groteske Formen an; sie offenbaren den Wunsch nach einem vom Staat garantierten Lebensstandard, der auch im Westen der Republik nicht selbstverständlich ist, geschweige denn durch staatliche Subventionen ermöglicht wird. In den Leserbriefspalten der Super- Zeitung etwa tobte seit Monaten der Kampf ums Rechthaben: Kaum meldete sich ein Ossi, der über hohe Mieten und niedrige Löhne klagte, antwortete schon ein Wessi, der auf den hohen Verbrauch von Autos und Videorecordern hinwies, sowie darauf, daß der Ossi bis jetzt umsonst gewohnt habe. Dabei zeugen manche jener Briefe von erschreckenden Bildungslücken. Für die 2.000 Mark im Monat, die sie verdiene, so eine Leserin aus dem Osten, würden die westdeutschen Verkäuferinnen zu Recht auf die Straße gehen; dabei bekommt in Wirklichkeit die durchschnittliche Westverkäuferin bei Aldi oder Penny unter zehn Mark die Stunde. Oder ein anderer Brief: Die einzigen Westdeutschen, die in den letzten zehn Jahren arbeitslos geworden seien, seien jene 5.000 Stahlarbeiter in Rheinhausen gewesen, und die hätten alle dicke Abfindungen bekommen. So bestätigen Ossis zunehmend das Vorurteil, sie wollten den Lebensstandard der Tchibo-Familie vom Steuerzahler finanziert bekommen. „Wenn euch das alles nicht paßt“, schrieb ein von der Jammerei entnervter Westdeutscher an das Ostberliner Satireblatt Eulenspiegel, „dann baut doch die Mauer wieder auf, führt das Ostgeld wieder ein und wählt Gregor Gysi zum Präsidenten. Wir Westdeutschen werden es euch danken.“ Ja, gewisse linksliberale und systemkritische Mitbürger werden inzwischen durch das fortwährende Ossi-Genörgel zu einer nie gekannten Identifikation mit dem bundesdeutschen Staat getrieben und fühlen einen dunklen Drang, diesen zu verteidigen. Denn ausgerechnet von Leuten, die noch nicht mal in Ansätzen das Prinzip der Gewaltenteilung begriffen hätten, wolle man sich ein System nicht madig machen lassen, mit dem man eigentlich doch ganz gut zurechtkommt.

Den Ossis vorzuhalten, sie orientierten sich am falschen Standard, wird in den neuen Ländern jedoch auf taube Ohren stoßen. Wenn es etwas gibt, das die Ossis fürchten wie der Teufel das Weihwasser, so ist es, mit armen Wessis verglichen zu werden. Denn wer immer im Westen lebte und dort heute arm ist, so die unausgesprochene Meinung, ist selber schuld, hatte er doch alle Chancen. Mitleid gebührt nur dem armen Ostler, der schuldlos von SED, Treuhand und den bösen Wessis in die Armut getrieben wurde. Solidarität scheint in dem Zusammenhang ein Fremdwort.

„Wenn unsere Ostkollegen einen Mißstand in einem Gesetz entdecken, dann ist ihre erste Überlegung nicht, dagegen zu kämpfen, sondern eine Ausnahmeregelung für sich zu fordern“, berichtet eine grüne, eher Ossi-kritische Politikerin.

Sie wird noch eine Weile bestehen bleiben, die Abneigung zwischen Ossis und Wessis. Zuviele haben ein Interesse an der Spaltung: die Arbeitgeber, weil das die Löhne in Ost und West drückt; die PDS, weil sie daran gescheitert ist, die linken Wessis mit zu vertreten und sich nun Chancen als einseitige Ossi-Vertretung ausrechnet; und viele Ossis und Wessis selbst, die das Gegenüber brauchen, um sich, zumindest moralisch, über andere erheben zu können.

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