: Aura als Programm
Louis I. Kahn — Eine internationale Wanderausstellung würdigt Wirken und Leben des amerikanischen Architekten ■ Von Martin Kieren
Bei den architektonischen Großprojekten der letzten Jahre in Paris, zumal bei den Wohn- und Geschäftshäusern in den äußeren Bezirken, läßt sich zweierlei feststellen: einerseits die Suche nach monumentaler Strenge — gepaart mit exzentrischen Details, ironischen Elementen und der Suche nach einer sachlichen, formalen Ruhe (nach dem postmodernen Schnickschnack der Jahre zuvor) —, andererseits ein Rekurrieren auf die Formensprache der „Klassischen Moderne“ — doch in der Geste stets etwas auftrumpfender, monumentaler. „Bloß keine Bescheidenheit“ ist die Devise. Im ersten Fall ist dabei ein gesteigerter Einsatz eleganter und teurer Materialien und eine ausgefeilte Raffinesse bei der Behandlung der technischen Fragen zu beobachten; im zweiten Fall die Behandlung des Baukörpers als schlichte Kubatur mit Lochfassade, einigen Durchblicken und Kompositionsprinzipien, die Le Corbusier und dessen Generation entlehnt sind.
Überhaupt scheint die junge Architektengeneration in Frankreich eher bereit, sich an der Suche nach einer zeitgemäßen Architektur zu beteiligen, als es bei uns der Fall ist. Und auch die Auftraggeber sind sehr viel mutiger bei der Wahl ihrer Architekten. Hinzu kommt in Frankreich eine große Bereitschaft, sich mit dem klassischen Erbe der Architekturentwicklung der letzten Jahrzehnte auseinanderzusetzen. Die „Öffentlichkeit“ wird bei ihrem Rezeptionswillen zusätzlich durch entsprechende Institutionen gestützt.
In Deutschland haben wir für diesen Zweck das Deutsche Architektur Museum in Frankfurt/Main, das unter den Kritikern — zu Recht — als Insider-Bude, als Boutique für die neueste Mode mit Marktschreiertendenzen und als Durchgangsstation für junge, vorlaute Karrieristen gehandelt wird. Das Centre Georges Pompidou in Paris hingegen hat es mit der Popularisierung der Themen seiner Ausstellungen immer ernster gemeint — was auch zu funktionieren scheint. Im April waren hier jedenfalls drei Ausstellungen unterschiedlichster Provenienz gleichzeitig zu sehen: tschechischer Kubismus in der Architektur, der Bildenden Kunst und im Kunstgewerbe; Frühwerke von Georges Rouault; und: eine Retrospektive des amerikanischen Architekten Louis Isadore Kahn, neben Frank Lloyd Wright und Louis Henry Sullivan einer der bedeutendsten und populärsten Architekten dieses Jahrhunderts in Amerika — der geheimnisvollste allemal.
Als Wanderausstellung 1991 vom Philadelphia Museum of Art zu seinem 90. Geburtstag konzipiert, sah diese Werkschau in Europa nur, wer nach Paris fuhr. Bis zum 18. August ist diese Ausstellung im Museum of Modern Art (MoMA) in New York zu sehen, anschließend in Gumma/ Japan, in Los Angeles, in Fort Worth/Texas und in Columbus/ Ohio. Warum sich keine weiteren europäischen Museen in der Lage zeigten, diese Ausstellung zu übernehmen, bleibt ein Rätsel — zumal der Einfluß Kahns auf eine Reihe europäischer Architekten unübersehbar ist. Ob bei James Stirling, Aldo Rossi, Oswald Mathias Ungers oder Mario Botta: Louis I. Kahn ist, kennt man sein Werk auch nur ansatzweise, in Europas Architektenköpfen seit jeher präsent, sein Einfluß immens. Auffallend allerdings bleibt, daß Kahn selbst in Europa nichts gebaut hat. Außerhalb der USA realisierte er Projekte in Nepal, Israel, Pakistan und in Indien. Was aber macht diesen Architekten so interessant? Woher rührt die Faszination, die sein Werk auf so viele am Bauen Interessierte ausübt?
Geboren wurde Kahn 1901 in Estland als Sohn von aus Estland und Lettland stammenden Eltern, die schon 1906 nach Philadelphia/USA auswanderten, wo sie 1915 naturalisiert wurden. Seine Ausbildung: Besuch der Sekundarschule und High- School, Kurse an der „Public Industrial Art School“, im „Graphic Sketch Club“ und an der „Pennsylvania Academy of Fine Art“ in Philadelphia. Schon während des Studiums (und auch danach) arbeitete er als Zeichner und Gestalter von Ausstellungen. 1924 Diplom, Heirat 1930 und seither tätig in verschiedenen Architekturbüros.
Die ersten zehn Jahre seines Schaffens als Architekt sind geprägt von theoretischen Untersuchungen zum Wohnungsbau und zur Stadt. Kahn arbeitet als Organisator und Leiter der Architectural Research Group, untersucht die Wohnverhältnisse in Philadelphia, erarbeitet Studien über Städteplanung und Slum- Sanierung und ist als beratender Architekt für diverse Wohnungsbaubehörden in den USA tätig. Erst zu Beginn der vierziger Jahre beginnt sein eigentliches Schaffen als planender und bauender Architekt. Die Jahre bis zu seinem Tod im Jahre 1974 sind gekennzeichnet durch eine immens wachsende Auftragslage in den USA und im mittleren Osten.
Geist und Licht
Zwei Begriffe werden ihn sein Leben lang begleiten: „Geist“ und „Licht“; und alles Gestalten und Formen ist bei ihm diesen Begriffen untergeordnet. Die geschaffenen Formen haben für ihn in diesen Begriffen ihren Ursprung, beziehen aus ihnen ihre spätere Kraft. Geist meint bei Kahn immer ein in sich ruhendes und zu den Gründen führendes Denken. Für sich — als „formender“ Architekt — beschreibt er das wie folgt: „Die Unterscheidungen, die ich zwischen ,meßbar‘ und ,unmeßbar‘, zwischen ,Form‘ und ,Gestaltung‘, zwischen ,dienenden‘ und ,bedienten Räumen‘ getroffen habe, sind dichotomische Unterschiede, die nur dem Denken dienen. Der Geist weiß, daß diese Dinge in Wirklichkeit eins sind; der Geist sucht denn auch in der Tat das Einssein in ihnen. Sie sind auch nicht etwa auf die Architektur beschränkt, sondern werden einfach als Produkt des Geistes hervorgebracht, um das Denken zu fördern.“ Diese Dichotomie meint grundsätzlich die von Mensch und Natur, speziell die des Paares „Idee“/„gebaute Architektur“.
Die Rätselhaftigkeit, die dem Werk Kahns innewohnt, rührt von seiner Meisterschaft, das Licht in seinen Bauten — und noch in den scheinbar untergeordnetsten Räumen — zu führen. Licht ist für Kahn der Ausgangspunkt der Erscheinungen, der Materie — aber auch das Mittel, diese Erscheinungen für uns sichtbar zu machen: „Materie ist erloschenes Licht. Wenn Licht aufhört, Licht zu sein, wird es Materie. Im Schweigen liegt der Wille zu sein, um etwas auszudrücken, und im Licht liegt der Wille zu sein, um etwas zu schaffen. Zwei Aspekte des Geistes, der eine nicht-lichthaft, der andere lichthaft. Das Lichthafte wird zum Lichtbündel, das Lichtbündel wird zu Feuer, und Feuer entartet zu Materie, und aus der Materie entstehen Mittel, Möglichkeiten, Evidenz. Folglich sind Berge erloschenes Licht, die Flüsse sind erloschenes Licht, Luft ist erloschenes Licht. Wir sind erloschenes Licht... Und der Ausdruckswille und der Schaffenswille kommen zusammen auf einer Art Schwelle, die wir Eingebung nennen.“
Das Programm Kahns läßt sich also auf die Aussage hin verdichten, daß er in der Architektur, die ihm wiederum nur eine Form der Kunst überhaupt ist, die Möglichkeit sieht, die Dichotomie Mensch/Natur zu harmonisieren.
Bauen
Wird man mit dem Werk Kahns konfrontiert, so fällt einem zuerst die Ruhe auf, die von diesem Werk ausgeht. Dabei meint diese Art der Ruhe einerseits die kompositorische Strenge und den geometrischen Geist, aus dessen Prinzipien diese Bauten geschaffen sind, andererseits das Schweigen, das sie ausstrahlen, Kultstätten, Orte der Kontemplation, große schweigende Nekropolen — in sich ruhende Architektur, mit den einfachen Mitteln von Wand und Öffnung geschaffen. Dahinter verbirgt sich aber immer ein strenges Konstruktionsprinzip und eine Ordnung, die „dienende“ und „bediente“ Räume so miteinander verbindet, daß die Hierarchie zwischen ihnen nur noch die der Funktion, nicht aber des Qualitätsunterschiedes ist — alles wird mit der gleichen Aufmerksamkeit bearbeitet, zu Ende gedacht, in das eine System einbezogen. Die Grundkonzepte dieser Arbeit, dieser „Haltung“, bleiben die klare Lichtführung, die Integration von räumlichen, konstruktiven und installationsbedingten Elementen und vor allem die Integration von Material und Herstellungsverfahren. Das Zusammenspiel dieser Grundkonzepte, ihre stetige Verfeinerung und Anwendung, haben Kahn zu einem „Meister“ werden lassen.
Sein Material sind der Beton und der Stein, der Backstein. Fast immer ist das konstruktive System schon von außen klar erkennbar — das Gerüst, das Gerippe, das Skelett, das nur noch der Ausfachung mit dem roten Ziegel bedarf. Dabei wird dies tragende Gerüst ebenso als erkennbare und bestimmende Struktur in der Innenorganisation der Bauten verwendet wie auch zur Gliederung der Fassaden. Dieses Prinzip der kompromißlosen Anwendung der fundamentalen und zwangsläufigen Elemente der Architektur läßt seine „Banglanagar“ (das Regierungszentrum von Dacca, Bangladesch, 1973 f.) den gleichen Geist atmen wie die Bibliothek und Mensa der Philip- Exeter-Akademie in New Hampshire (1967-72) oder das Theater der Darstellenden Künste in Fort Wayne, Indiana (1966-73).
Kultstätten
Wohl kein anderer Architekt dieses Jahrhunderts hat seinen Bauten immer wieder diese Aura des Schweigens und der Kontemplation verliehen wie Louis I. Kahn. Nicht umsonst hat er sich immer wieder dieser Aufgabe gewidmet, wenn auch der größte Teil dieser Planungen unrealisiert blieb. Aber auch bei Bauaufgaben, die nicht schon vom Programm her diese Aura benötigten, wendete er Kompositionsprinzipien an, die das fertige Bauwerk, den Baukomplex als eine Art gedanklichen Ruheorts erscheinen lassen; so bei seinem Salk-Institut für biologische Forschung in La Jolla, Kalifornien (1959-65), als auch beim Kimbell- Museum in Fort Worth, Texas (1967-72) — an etwas abgelegenen Orten stehende Baukomplexe, die eher an Klosteranlagen erinnern als an Forschungsstätten oder Kunsttempel. Gerade im Verhältnis zu der lauten Museumsbauerei hier und jetzt sehnt man sich beizeiten nach Stätten, wo es ruhiger zugehen möge — und man spürt hier die gewaltige Kraft, die diesem Architekten zur Verfügung stand und die es ihm ermöglichte, vorbildlich — im Sinne einer zeitlosen Architektur — zu wirken.
Der Ausstellungsort des Centre Georges Pompidou ließ während der Ausstellung einiges von dieser Aura ahnen. Selbst dem Lärm der Großstadt Paris entrückt — die Ausstellung befand sich im obersten Stockwerk — konnte man seinen Blick immer wieder vergleichende Studien anstellen lassen: Ein Blick auf das Stadtchaos (das wir lieben) dort unten, ein Blick auf die einfach geschnittenen geometrischen Formen, auf die Modelle und Zeichnungen der Orte der Kontemplation (nach denen wir uns sehnen) — und das in dieser vollklimatisierten Stille des Museums.
Die Ausstellung läßt einen aber oft allein. An Texten hat man gespart, die wenigen geben Auskunft über Auftraggeber, Mitarbeiter, Bauzeit; das funktionelle Programm wird nie beschrieben, und der Kontext, in dem die Bauten entstanden sind, ist meist ausgeblendet. Zu sehen gibt es allerdings genug: eine große Anzahl von Modellen und Originalzeichnungen aus des „Meisters“ Hand geben allein schon Auskunft über den Architekturwillen, der Kahn innewohnte.
Louis I. Kahn: „In the Realm of Architectur“, Museum of Modern Art, New York. Bis zum 18. August. Englischsprachiger Katalog in deutschen Fachbuchhandlungen, um 75 Mark.
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