■ Störzeile: Moral oder Markt ?
STÖRZEILE
Moral oder Markt ?
Die alte Frau sitzt mit starrem Blick auf ihrem Campinghocker, ihren Urenkel auf dem Schoß. Ein fremder Mann bückt sich gönnerhaft zu ihr herunter, spricht in einer fremden Sprache auf sie ein. Acht Kameraobjektive sind auf die Frau gerichtet, sechs Mikrophone vor ihrem Gesicht, 40 Augenpaare starren sie an. So sieht die Endstation nach wochen- oder monatelanger Odyssee aus: Tote Familienangehörige, Haus und Habe zerstört, die Heimat und die Zukunft verloren, und dann eine solche Szene.
„Schlimm, wie sich die Medien am Leiden dieser Menschen weiden“, stöhnt ein Helfer und trifft mit dem Satz den Nerv des quälenden Gefühls. Das Dilemma — Menschen, deren Schicksal viele Hamburger berührt, kommen in die Hansestadt. Wie wurden sie untergebracht, was haben sie erlebt, wie kann man helfen? Fragen, die sich nicht nur Journalisten stellen. Befriedigt die Presse, befriedigt die taz voyeuristische Neugierde, wenn sie vor Ort auftaucht, um über die Schicksale zu berichten, oder erfüllt sie ureigenste Berichterstatterpflichten?
Ein Seiltanz zwischen Moral und Marktgesetz, der auch uns nicht immer gelingt. Menschliche Schicksale werden allerdings bei presseöffentlichen Politikerauftritten vollends zur Staffage - ein Verzicht auf Publicity, hier ein Gewinn an Glaubwürdigkeit. Eine Inszenierung, die keine Zuschauer haben sollte. Oder doch? Sannah Koch
Bericht S.26
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