: Lieber ein Auto als politisch aktiv
■ Ostberliner Metaller glauben nicht an heißen Herbst/ Patriarchen auf dem Vormarsch
Über dem Beistelltisch mit mausgrauer Telefonanlage hängt ein Bild vom Tanz auf der Mauer. Im Regal steht die neueste Ausgabe des Betriebsverfassungsgesetzes. Sonst hat sich im Zimmer des Ostberliner Betriebsrates der Fahrzeugausrüstung (FAGA, ein Zulieferbetrieb der Waggonindustrie) in der Andreasstraße nicht viel verändert. Das übliche Ambiente: wacklige Metallstühle, Resopanmöbel. Allerdings: Ohne »Wende« säße Wolfgang Prescher jetzt ganz bestimmt nicht als Betriebsratsvorsitzender hier. Und die Probleme, die er mit der Belegschaft heute hat, wären für seinen Vorgänger — selbstverständlich ein SED-Genosse — unvorstellbar gewesen. Mit der Mitgliedschaft im FDGB waren den Arbeitern früher soziale Pfründe garantiert: Einen Platz im Kindergarten haten sie sicher. Auch der preiswerte Urlaub im Ferienheim der Gewerkschaft war ein großer Anreiz, in der einflußlosen Kulissengewerkschaft Mitglied zu sein. Sogar die Sozialversicherung organisierte der FDGB.
Heute sind im Fahrzeugausrüstungs-Werk immer noch 85 Prozent aller Belegschaftsmitglieder in der IG Metall, aber das Interesse an gewerkschaftspolitischer Arbeit ist eher gering. »Viele sehen jetzt nur das neue Auto und nicht die Notwendigkeit politischer Arbeit«, erklärt Wolfgang Onderka, der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende bei der Fahrzeugausrüstung Berlin GmbH.
Die Bedeutung der Gewerkschaften als Tarifpartner werde von vielen ArbeiterInnen im Ostteil der Stadt unterschätzt. »Die Situation ist verwaschen, weil der persönliche Nutzen der Gewerkschaftsarbeit nicht mehr erkannt wird«, sagt Onderka. Da auch Nichtgewerkschaftsmitglieder Tariflöhne bekämen, sähen viele KollegInnen im Betrieb nicht ein, warum sie sich noch gewerkschaftlich organisieren sollten.
Susanne Roßler (26), alleinerziehende Mutter, wird zum 30. September entlassen. Sie frustiert der alte- neue Patriarchalismus im Betrieb. »Es trifft die Frauen ja immer härter. Die Männer legen jetzt die Beine wieder hoch und wollen sich die Pantoffeln wieder bringen lassen«, kommentiert sie verbittert die »männliche« Bewältigung der Arbeitslosigkeit im Osten. Demonstriert habe sie dagegen allerdings nicht. Daß Mütter arbeiten, sei für die Chefs der FAGA nach der Wende nicht mehr normal. Als Demonstrantin, befürchtet sie, hätte sie ihr Chef sofort »abgeschossen«. »Die meisten sind noch in der Gewerkschaft, weil sie immer drin waren«, sagt Susanne Roßler. Auch Reinhard Wolter (42) glaubt nicht an einen »heißen Herbst«: »Die Wende hat die Leute verunsichert. Die sind mit sich selbst beschäftigt.« Karenztage und die Aufweichung der Tarifverträge seien da nicht so wichtig.
Immerhin gelang es dem Betriebsrat kürzlich trotz mangelnden Gewerkschaftsbewußtseins eine außerordentliche Betriebsversammlung zu den geplanten Karenztagen zu organisieren. Ob die säuerliche Stimmung gegen die Karenztage für einen »heißen Herbst« reicht, wie ihn die IG Metall herbeisehnt, ist noch offen. An Problemen in der Elektro- und Metallindustrie besteht kein Mangel: Nur 10 Prozent der Ostberliner Arbeitsplätze der Vorwendezeit blieben erhalten. Mit privaten und öffentlichen Gesamtinvestitionen von 1 Milliarde Mark, heißt es in einem jetzt veröffentlichten internen Gutachten der IG Metall, sollen 12.640 Arbeitsplätze im Ostteil der Stadt zunächst gesichert und 2.564 neu geschaffen werden. 170 Betriebe, die meisten mit weniger als 100 Beschäftigten, hätten die Privatisierung durch die Treuhand bis jetzt überlebt.
Dieter Scholz, Vorstandsmitglied der IG Metall, befürchtet, daß sich die Situation in der Berliner Metallindustrie noch weiter verschlechtert. Hochqualifizierte Facharbeiter könnten für die Ostbetriebe kaum noch gewonnen werden, weil sie für sich keine Aufstiegschancen sähen. Hinzu kommt, daß sich immer mehr Betriebe im Berliner Umland, dem sogenannten »Speckgürtel« ansiedeln. Auch die 800 Arbeitsplätze bei der FAGA sind nicht sicher. Der Betrieb, der als VEB 1.300 Beschäftigte hatte, wird bis zum Jahresende weitere 70 Stellen abbauen. Damit erreicht das traditionsreiche Unternehmen, 1843 von Julius Pintsch in Berlin gegründet, zwar ein konkurrenzfähiges Produktivitätsniveau, aber das Überleben ist nicht garantiert. Der Grund: Die FAGA stellt ausschließlich Ausrüstungen für Waggonhersteller in der GUS her.
Inwieweit dieser Markt erhalten bleibt, hängt von den Hermes-Bürgschaften der Bundesregierung ab. Auf dem deutschen Markt läßt das Monopol von AEG und Siemens den Waggonausrüstern keine Chance. Zudem passen die Klimaanlagen und Generatoren der FAGA nicht zu den Waggontypen der Bundesbahn. Die 49jährige Mechanikerin Christine Koch arbeitet seit 15 Jahren bei der FAGA. Sie kann, wenn sie an die Zukunft ihres Arbeitsplatzes denkt, nur die Stirn runzeln: »Wir wissen nicht, was auf uns zukommt. Wir wissen nichts — schon gar nicht, ob uns die Treuhand verkauft oder nicht.« Rüdiger Soldt
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