: Scheibengericht: Sonic Youth / Hannes Wader / Halleluja Ding Dong Happa Happy / Baby you know / The Schramms / Galliano
SONIC YOUTH
Dirty
(Geffen Records/MCA)
Sonic Youth sehen zwar immer noch aus wie verspätete Geschöpfe aus Andy Warhols Factory, sind mit „Dirty“ aber einen weiteren wichtigen Schritt über die Grenzen des New Yorker Hipster-Kosmos hinausgegangen. Warhol, auf die Füße gestellt. Kim Gordon singt in „Swimsuit Issue“ von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz, „Sugar Kane“ handelt von Marylin Monroes Backstage-Existenz als Hotelnutte des Establishments (die noch in der Ikonisierung zum Objekt geheimer Rettungsphantasien fortgesetzt wird), und „100%“, gleichzeitig die Single und das Video zur CD, erzählt, was Joe Cole, einem Freund von Henry Rollins, passierte: Kurz vor Weihnachten im letzten Jahr wurde er ohne Grund direkt vor seinem Haus erschossen. Sonic Youth sagen: Macht euch nichts vor, Leute, man kann diesen Dingen nicht entkommen, auch wenn man ein kleines Mittelstandsleben lebt. Nicht zufällig haben Mike Kelleys Stoffpüppchen und Plüschtiere, die auf dem Cover von „Dirty“ abgebildet sind, etwas von der Ästhetik stummer Opfer. „Dirty“ ist kein camp-Begriff mehr, er meint nicht die nachträgliche Ästhetisierung von B-Movies und Pornographie, sondern zielt auf die krude Realität alltäglicher Sachverhalte: dirty jobs, dirty sex, dirty politics.
Trotzdem ist „Dirty“ nicht bloß eine beschreibende Platte. Sonic Youth sagen auch: Du kannst versuchen, nicht part of it zu sein; Anita Hill hatte recht, als sie sich gegen die Belästigung durch den Richter Clarence Thomas zur Wehr setzte. Gründe eine Rockband, wenn du was zu sagen hast. Mach dein Ding. Und, was noch besser ist: Du mußt dazu noch nicht einmal zum Independent-Sektierer werden. Die Musik auf dieser zweiten Veröffentlichung der Band bei einem Major Label ist der soundhaftige Beweis für die Richtigkeit der Entscheidung von Thurston Moore, Lee Ranaldo, Kim Gordon und Steve Shelley, sich mit einem Dasein als lokale Könige der Lower East Side nicht zufrieden zu geben. Ähnlich wie Fugazi, nur weniger parolenhaft, setzen sie auf die Macht jener Momente, die entstehen, wenn der Haß auf den Mainstream, die Unzufriedenheit mit der Gesamtsituation und das Nicht-Anerkennen gegebener Grenzen bis zu dem Punkt getrieben wird, wo der Rock-Song sich plötzlich neu zu definieren scheint und — man muß das so stark sagen — im Ohr explodiert. This record should be played loud! Die Songs halten sich, ähnlich wie beim Vorgänger „Goo“ von 1990, auf dem schmalen Grat, wo Lärm gerade noch Song ist, ohne in seine diversen Einzelteile zu zerfallen, und Pop immer noch Rock genug, um nicht an Gefälligkeit zugrunde zu gehen. „Youth against Fascism“ ist eben nicht nur ein Songtitel, sondern auch eine Position, die sich im üblichen Reim- und Refrainschema nicht ausdrücken läßt.
„Dirty“ ist eine Rock'n'Roll- Platte im allerbesten Sinne: Es hat die letzten Jahrzehnte — vor allem Punk-Rock — integriert, ohne sie als Errungenschaft auszustellen, aber auch ohne bloß damit zu spielen. „Es ist Wahljahr in den USA, und wir haben niemanden, für den wir unsere Stimme abgeben können. Nur dagegen“, schreibt Gitarrist Thurston Moore in einem Newsletter, den die Plattenfirma anstelle der üblichen Presse-Biographie verteilt hat. Das kleinere Übel als ewige Wiederkehr des Immergleichen: eine Grußadresse Moores an die Anti-Golfkrieg-, Anti-Sozialabbau und Anti-Rassismus-Demonstranten vor dem Weißen Haus, die davon ein Lied zu singen wissen. Witzigerweise sind Sonic Youth heute in etwa da angelangt, wo die Fugs und andere Ende der Sechziger standen, und auch wenn sich die Geschichte nie wirklich wiederholt: aus diesem Stoff ist einmal die APO entstanden.
GALLIANO
A Joyful Note Unto The Creator
(Talkin' Loud/Polydor)
Bei Rob Galliano stellt sich immer noch die Frage: Darf der das? Darf er als Weißer die sounds, rhymes und riddims der Schwarzen so einfach klauen, um damit im hippen London groß rauszukommen? Ihn selbst scheinen solche Überlegungen allerdings wenig zu kratzen, und am Ende ist das ein gar nicht mal unsympathischer Zug an diesem Burschen, der — man glaubt ihm das ohne weiteres — gerne einen durchzieht, mit Freunden rumhängt und das gute Leben lebt, einfach so. Späthippie, der er ist, gibt er den Leuten, wozu sie auch heute noch gerne die Körper wiegen: Reggae-Bässe, Kiffer-Raps und vor allem viel New-Age-Gedankenmasse: Alles wird gut. Für den Glanz des Zeitgemäßen sorgen Gaststars wie Carleen Anderson von den Young Disciples, Sänger und Multiinstrumentalist Omar (beide Label-Mates auf „Talking Loud“), sowie das Etikett „Jazz- HipHop“ — wobei „Jazz“ natürlich weniger Improvisation und Innovation meint als Nightclub-Atmo, Cocktail-Feeling und gepflegte Vokalartistik. Wird wohl der Al Jarreau der Neunziger werden.
HANNES WADER
Schon so lang — 62-92
(Phonogram)
Mitunter weht die Anarchie der Bemusterungstaktiken der Plattenfirmen einem Werke auf den Tisch, mit denen man nicht mehr gerechnet hat, und die einen dann auf dem falschen Fuß erwischen. Zum Beispiel diese Compilation mit Wader- Songs, die die Phonogram unter tätiger Mithilfe des Künstlers zu dessen 50. Geburtstag zusammengestellt hat, sozusagen die Quintessenz aus 30 Jahren Wadertum. Ich legte den Tonträger auf, und mir wurde komisch. War denn nie jemand was aufgefallen? Hatte denn niemand je gehört, was das eigentlich für seltsame Krypto-Lieder waren?
Zum Beispiel „Cocaine“. Da kommt einer von Frankfurt nach Berlin, drei Koffer voll mit Kokain, die Wandergitarre schrummt munter vor sich hin, und unversehens entspinnt sich — mehr als rasant, muß man sagen — eine Art Familientragödie, ein abgeschlossener Kurzroman, in dem alle, Opa, Oma, Frau, der Sohn und die minderjährige Tochter, immer nur das eine wollen: „die Droge“. „Oh Mama, komm schnell her, halt mich fest, ich kann nicht mehr.“
Nun gut, mag man sich sagen, depressive Linke, die Kategorien des Marxismus/Leninismus greifen Anfang der Siebziger nicht mehr, doch ist das alles? Was hat Wader mit diesem Song, den er, wie er in den Liner Notes versichert, „mit leichter Hand“ schrieb, eigentlich und wirklich gewollt? Bissel warnen? Mahnen? War das ein Antidrogen-Lied? Und dann diese Lyrics! „Opa hat den Gilb, wartet auf den Tod, freut sich auf Jimi Hendrix und den lieben Gott.“ Den Gilb! Wader hatte die neuesten Einflüsse aus der Konsumwerbung verarbeitet, aber offenbar nicht die geringste Ahnung von Drogen, schon gar nicht von Kokain. Für ihn „kitzelt es in der Nase, schmeckt nach Scheiße, wirkt wie Arsen“. Das ist waschechte social fiction, Zeitgeist als Kolportage, ein wenig schon wie in der Lindenstraße.
Und noch ein Beispiel: „Ich bin unterwegs nach Süden.“ Da frißt dem lyrischen Ich hochpathetisch und allen Ernstes der Schweiß in den Stiefeln an den Zeh'n. Gekränkt, gedemütigt und geschunden, ungeduscht, geduzt und ausgebuht eilt es seiner definitiven Gesundung entgegen im Land, wo die Zitronen blühn. „Und wenn mir der Wind dann fetzenweise meine alte tote Haut/ vom Rücken fegt, als weiße Asche steh ich auf/ und bin gesund.“
Klingt das nicht ganz ähnlich wie bei Verena Stephan („Häutungen“)? Hatte die deutsche Liedermacherbewegung etwa 1972 bereits den gerade erst aufblühenden Feminismus integriert? Womöglich infamerweise? Oder war das bloß Goethe: „Auch ich in Arkadien!“ Aber es geht noch weiter: „Morgen, morgen schreibe ich meine Träume auf und sehe/ wie in der Vergangenheit der Schmutz in meinen Eingeweiden [!], im Rückenmark [!!], im Hirn [!!!] begonnen hat zu faulen [!!!!], und zu Gift geronnen ist.“ Wow! Was schießt da alles zusammen? Kant-Krise? Purgatoriumswahn? Das Unbehagen in der Kultur? Was war geschehen? War Wader Freud begegnet? Oder verarbeitete er bloß die urchristliche Losung „Aber sprich nur ein Wort, und meine Seele wird gesund“?
Plötzlich stand als ungeheurer Imperativ im Raum, dem endlich mal auf die Spur zu kommen, wie sich das ursprünglich zusammengereimt hat in so einem Wader-Hirn. Das alles mal reflexiv einzuholen, auseinanderzuklamüsern, aufzudröseln, an der Leitlinie linker Essentials wie „Heute hier, morgen dort“, „Hotel zur langen Dämmerung“, „Arschkriecherballade“, „Der Tankerkönig“, „Charly“ oder „Schön ist die Jugend“ zu einer soliden und durchdachten Zustandsbeschreibung bundesdeutschen Songwritings und damit bundesdeutscher Geschichte zu gelangen, mit anderen Worten: an dieser gerafften, kompakten Greatest- Hits-Massierung das zu betreiben, was Benjamin „Mortifikation der Werke“ nennt: das Herausarbeiten des objektiven historischen Gehalts — jenseits aller Intentionen; die Jubiläumsausgabe als abgeschlossene Werkedition wider Willen — mein ganz persönlicher Beitrag zur Verbesserung Mitteleuropas.
Um es gleich zu sagen: Ich bin daran gescheitert. Ich brachte es noch zur Arbeitshypothese, Wader sei pop, mehr als seine Kollegen Degenhardt, Süverkrüp oder (gewagt!) sogar Reinhard Mey sei er ein ungeheurer Bauchredner links- alternativer Selbstverwirklichungsmanöver, Rückzugsgefechte und Selbsttäuschungen gewesen. Weit habe er sich aus dem Fenster der Peinlichkeit gehängt, dieser Klartextredner der Verwirrung. Und Hand aufs Herz: Hatte auf diesen Stücken nicht der Dichter gesprochen? Hatte Wader nicht tatsächlich alles getreulich seismographiert, alles gegeben — sogar sein Herzblut? War er nicht in den Siebzigern brav über die Dörfer gezogen und zum Heimattümler und Rattenfänger geworden, ja, hatte er nicht sogar Ostfriesisch gelernt, um sich so einen kleinen, wenn auch melancholischen linken Hergottswinkel zu bewahren — „Geschlagen ziehen wir nach Haus, die Enkel fechten's besser aus“? Ich drang zu der fast schon gesicherten Überzeugung durch, Waders Werk wäre eine Art écriture automatique der linken Prä-Postmoderne, ein Theaterfundus des kollektiven Unbewußten, somit ein unschätzbares Dokument zur Zeitgeschichte.
Doch dann verließen mich die Kräfte. „Fragt mich einer warum/ ich so bin, bleib ich stumm“ — zuviele Imponderablien, zu hoffnungslos war das alles eingebettet in die Kontexte von Wandervogelbewegung, Kirchentagsjugend und „Johnny komm, wir fressen eine Leiche“. Die Pop-Geschichte ist eben nie abgeschlossen, und unsere Leichen leben noch. Jetzt engagiert sich der Mann auch noch für obskure „Komitees für Gerechtigkeit“ und hofft zum Fünfzigsten auf ein erneutes Coming-out. Nein, es ist zuviel verlangt. Wader wird und muß uns allen ein Rätsel bleiben.
PS: Ein Stück fehlt auf der Geburtstagsplatte: „Ich bin ein Rohr im Wind“ („halt mich nicht fest, mein Kind“).
MILCH
Frauenhände
(Sub Up)
HALLELUJAH DING DONG HAPPY HAPPY!
Mikrokosmos (L'Age D'Or/Polydor)
Zwei Münchner in Hamburg. Offenbar hat der Erfolg von Bands wie Blumfeld oder Cpt. Cirk die beiden, die sich Milch nennen, dorthin gelockt. Und in der Tat scheinen Lyrics, die essentielle Fragen ansprechen wie „Warum verbindet mich mit dem einen alles/ Oder sehr Vieles/ Oder sehr Weniges/ Mit dem anderen garnichts?“ in eine durchaus ähnliche Richtung zu weisen.
Doch anders als die Hamburger Schule, die — im besten Sinne natürlich — radikales Juvenilsein zum Programm erhoben hat, das mit Lesefrüchten von Adorno bis hin zu Luhmann kredenzt wird, sind die Münchner bei näherem Hinhören eher schlicht kindisch. Mit ihren Marschrhythmen und Kindergarten-Samples landen sie, man weiß nicht so recht ob volens oder nolens, fast schon wieder bei Andreas Dorau. „Warum sollte Holz/ Das ich gegen Wellen werfe/ Verloren sein?“ Dekonstruktivismus oder lyrisches Makramé? — das ist hier die Frage. Eine Lieblingszeile hat sich nach längerem Hören immerhin festgesetzt: „Saugen läßt mich saure Frucht.“ Es paßt auf so vieles.
Hallelujah Ding Dong Happy Happy! gehören zum eisernen Bestand des L'Age-D'Or-Pop-Verständnisses und wären unter anderen Umständen vielleicht eine lupenreine Sixties-Band geworden. Jetzt, wo das schon seit längerem ausgereizt ist, integrieren sie Restbestände aus Jam-Songs und Schrammel-Beat-Versatzstücke in teils englisch, zum größeren Teil deutsch gesungene Kauderwelschigkeiten, die thematisch den Mikrokosmos Hamburger Gymnasiastentums abstecken: trinken, dichten und Sex haben mit höheren Töchtern. „Du kannst danach greifen/ Es ans Licht zerren/ Überall Durst, Tränen, Leute/ Und 1.000 Dinge hier/ Land gewinnen.“ Ich registriere das als ein weiteres Stück Hamburger Klötzchenbauweise, dem es zum ganz großen Wurf nicht langt, aus dem aber vielleicht doch irgendwann das Richtige entstehen mag.
BABY YOU KNOW
Clear Water
(Sub Up)
THE SCHRAMMS
Rock, Paper, Scissors, Dynamite
(Normal)
„Clear Water“. Wie damals, wie bei Creedence Clearwater Revival. Baby You Know haben den für junge Leute ungewöhnlichen Entschluß gefaßt, der Welt mit all ihren teuflischen Versuchungen wie Sampling, Scratching, Stretching, Döner Kebap und wie der moderne Kram eben so heißt zu entsagen, um ihr Leben in der splendid isolation ihres Gehöfts in der Nähe von Regensburg zu verbringen. Unentfremdet quasi. Morgens fischen, mittags jagen, abends mit dem Hund ausgehen, der sich auf dem Cover-Foto sichtlich zufrieden zu Füßen der fünfköpfigen Band zusammenrollt.
So eine funktionierende Klein- Kommune kann so leicht nichts hinter dem Ofen hervorlocken. Und doch: statt Schafen werden naturreine Songs herangezüchtet, die Baby You Know nur mit ausgewählten Bob-Dylan-Melodien und handverlesenen, original ausländischen Gitarren-licks füttern. Konsequent wird die Oberpfalz zum Klein- Amerika ausgebaut. Oder Klein- Australien, das kommt auf Ähnliches hinaus. Abends schaut nämlich Robert Forster von den Go Betweens herein, der sich auf Station zwischen Brisbane und London in die Geigerin verguckt hat und daraufhin einfach dageblieben ist. Zusammen singen sie den Mond an oder versuchen sich an themes from an imaginary western...
Der Beförderung des deutschen Pop-Songs ist das alles kein bißchen dienlich, aber — muß ja nicht immer sein, sowas, und vielleicht ist „Clear Water“ am Ende doch nicht ganz so unzeitgemäß, wie es scheint: Auch Marc O'Polo wirbt mit dem Slogan „Only Nature's Material“.
Ähnlich puristisch sind The Schramms, aber natürlich bewegen sie sich als Amis immer noch ungleich lockerer und selbstverständlicher in den eigenen Traditionen. „Rock, Paper, Scissors, Dynamite“ ist eine derart sirrende flirrende „Wir sind noch jung und nicht von gestern, aber wollen trotzdem nur den klassischen Folk-Rock- Song“-Platte, daß man die Waffen strecken möchte und bloß die Empfehlung aussprechen: Ihre Deutschlandtournee hat gerade begonnen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen