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Mediziner benutzen ihre Patienten als Mittel zum Zweck

■ Wenn die Kosten für Arznei- und Heilmittel zu hoch seien, so argumentiert die Ärzteschaft, müssen Einsparungen eben bei der Industrie ansetzen

Die Kunst ist frei, und ÄrztInnen verstehen sich als KünstlerInnen. Jahrzehntelang konnten sie ihre Honorare mit den Krankenkassen aushandeln, ohne daß mit „staatsdirigistischen Instrumenten“ eingegriffen wurde. Jetzt sehen sie die Gefahr, „zu Befehlsempfängern degradiert“, gleichsam zum sozialistischen Realismus verdonnert zu werden. Widerstand, Widerstand, rufen sie und kündigen an, im Warte- und Sprechzimmer die PatientInnen zu agitieren. Schon den Ausgangspunkt von Minister Seehofers Reformvorschlag, die Stabilität der Krankenkassenbeitragssätze, halten sie für grundfalsch. „Eine sachgerechte, am zwangsläufig wachsenden Leistungsbedarf der Bevölkerung ausgerichtete Gesundheitspolitik darf sich nicht länger an gesetzlich verordneter Kostendämpfung mit ausschließlich ökonomischer Orientierung erschöpfen“, schreibt die Bundesärztekammer. Der medizinische Fortschritt koste nun einmal Geld, und die PatientInnen seien auch bereit, dafür in die Tasche zu greifen.

Pünktlich zum Treffen der Kassenärzte in Köln ließ die Bundesvereinigung eine von ihr in Auftrag gegebene Emnid-Umfrage veröffentlichen. Demnach akzeptieren 66 Prozent der Befragten höhere Beitragssätze, wenn sie dafür in den Genuß der modernsten medizinischen Versorgung kommen. Und 64 Prozent solidarisieren sich mit den ÄrztInnen gegen die geplante „Malus“-Regel, die jedem Doktor nur ein bestimmtes Kontingent an Medikamenten zugesteht — wer mehr verschreibt, spürt's in der Kasse. Ein vertrauensvolles Arzt-Patienten-Verhältnis sei insbesondere am Ende des Quartals bei einer solchen Regelung nicht mehr möglich, argumentieren Mediziner.

ÄrztInnen und PatientInnen in der Einheitsfront — auf diese Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit haben sich die MedizinerInnen festgelegt. Wenn die Kosten für Arznei- und Heilmittel zu hoch seien, müsse man bei der Industrie ansetzen, nicht bei den verschreibenden ÄrztInnen. Damit haben die MedizinerInnen zwar grundsätzlich recht. In der Vergangenheit aber haben sie kräftig dazu beigetragen, die Kassen der Pharmakonzerne klingeln zu lassen. Angeregt durch die Pharmaindustrie, hebelten sie beispielsweise durch Verschreibung größerer Packungen die Festpreisregelung aus. Die beleidigten Apotheker schickten gestern prompt die Retourkutsche: Die von ihnen geforderten Sparopfer seien nicht gerechtfertigt, da ihr Einkommen „im Vergleich zu den Ärzten, Zahnärzten und Wirtschaftsprüfern erheblich geringer“ sei, so der Geschäftsführer des Bundesverbandes, Rainer Braun.

Aber auch an einer anderen Stelle wird deutlich, daß die Ärztevertreter die Bedürfnisse der PatientInnen in der gegenwärtigen politischen Auseinandersetzung instrumentalisieren: Die Interessen der Kranken tauchen nur da auf, wo es um die optimale Versorgungsmöglichkeit geht. Wie aber der Patient diese Leistung bezahlt, ist den Ärztevertretern egal: „Die Politik wird aufgefordert, selbst zu definieren, welche ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Leistungen zukünftig zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung erbracht werden dürfen.“ Im Klartext heißt das, nicht die Krankheit, sondern das Portemonnaie bestimmt, welche Therapie angezeigt ist.

Besonders die von Seehofer angepeilte staatliche Überprüfung der Abrechnungen zwischen Krankenkassen und ÄrztInnen treibt den Blutdruck der MedizinerInnen in die Höhe. „Die Verpflichtung, alle Diagnosen unter Nutzung des vierstelligen ICD-Schlüssels zu verschlüsseln, stellt eine unannehmbare Bürokratisierung der freiberuflichen Tätigkeit des Kassenarztes dar.“ In den letzten Jahren haben sie sich erfolgreich gegen eine Umstellung der antiquierten Datenverarbeitung in den Krankenkassen gewehrt, die schon Norbert Blüm eingefordert hat.

Angst haben die niedergelassenen ÄrztInnen auch davor, daß viele PatientInnen sich lieber in Krankenhäusern behandeln lassen, wo das Abrechnungssystem auch nach der Reform nicht auf einem Gesamtbudget basieren soll. Wenn eine „Aushungerung der ambulanten Versorgung zugunsten einer Stärkung der stationären und teilstationären Versorgung und die damit zwangsläufig verbundene Ausgabenentwicklung“ gewollt werde, dann müsse die Regierung das auch offen vertreten, fordert die Kassenärztliche Vereinigung. An dieser Stelle sieht dann endlich auch der Apothekerverband einen Anknüpfungspunkt, in den Protest der Ärzteschaft einzustimmen: Gespart werden müsse da, „wo die Kosten in überdimensionaler Form anfallen, zum Beispiel im Krankenhausbereich“.

Die kaninchengleiche Vermehrung der Ärzteschaft — seit 1960 hat sich ihre Zahl allein in Westdeutschland von 74.486 auf 202.020 erhöht — wird zunächst weitergehen. Wer schon im Kittel steckt, soll weiter zugelassen werden. Das heißt: Wenn Seehofer tatsächlich durchsetzt, daß die Einkommen der Ärzteschaft an die allgemeine Grundlohnentwicklung angepaßt werden, muß der einzelne tatsächlich mit einer real leereren Kasse rechnen als gegenwärtig. Brotlose Kunst aber wird die Medizin auch künftig nicht sein. Annette Jensen

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