: Alle eine Familie, oder?
■ Fotoausstellung im Foyer der Angestelltenkammer: „Einheit in der Vielfalt — Streifzug durch Europa“
Zuerst die beiden guten Nachrichten. Erstens: Alte Fotos anzugucken ist jedenfalls interessant, mit künstlerischen Gesichtspunkten oder ohne sie, und alte Fotos gibt es ab sofort in der Angestelltenkammer zu sehen. „Einheit in der Vielfalt — Streifzug durch Europa in historischen Fotos von 1875-1975“ heißt die gestern dort eröffnete Ausstellung. Zweitens: Europa ist ein Thema. Ja. Auch in Bremen. Und historische Bilder von den tatsächlich über 150 kleinen und großen Völkern Europas zu zeigen und auf den Unterschied zwischen buntem Völkergemisch und blankem Nationalstaats-Streben hinzuweisen, ist recht. Das tat gestern Bürgerschaftspräsident Dr. D. Klink, der nämlich nebenbei Vorsitzender der Europa-Union, Landesverband Bremen ist: „Ganz schlimm wird es, wenn Minderheiten meinen, sie müßten sich gewaltsam die Mehrheit verschaffen, um dann in einem 'ethnisch reinen' Gebiet zu herrschen, wie das die nationalistischen Träumer von einem Groß-Serbien zur Zeit in Bosnien und Herzegowina praktizieren.“
Nun die schlechte Nachricht: Diese Ausstellung ist eine Mogelpackung, besonders was die Begkleittexte betrifft. Auf ein paar Stellwänden ist die „Vielfalt“ der Völker fotografisch aufgeklebt. Die Großen kriegen zwei Wände, die kleinen eine, die meisten keine. Mit Geschichte, mit einer erklärenden Absicht hat die Auswahl und Anordnung der Fotos erkennbar wenig zu tun, auch wenn der Titel einen Bogen über 100 Jahre suggeriert. Beispiel: Portugal. Fischverkäufer, Salzträger, Wäscherinnen, Portwein- Keller. Der Text dazu muß aus meinem Erdkunde-Buch der gymnasialen Mittelstufe abgeschrieben worden sein: Daß es einen regenreichen Norden mit kleinbäuerlicher Struktur und einen — richtig: trockenen Süden mit — richtig: Großgrundbesitz gibt. War da nicht etwas mit der EG? Gab es dort 1974 nicht eine Revolution, Nelken und auch Enteignungen? Im ausgestellten „historischen Streifzug“ nicht. Da heißt Spanien: Feste feiern und töpfern, Schweden heißt ländliche Verlobung, Frankreich heißt buntes oder malerisches Treiben in Paris und in der Provinz. Zwei Tafeln Deutschland: einmal Tabakanbau, einmal Bergbau. Beides spielt in den 30ern, aber das spielt weiter keine Rolle.
Wer sowieso mehr weiß, für den mag der Blick auf das Innere der Kohlengruben, auf die kerzengerade sitzende Tabakblatt- Entripperin, auf ein schwedisches Brautpaar illustrativ sein oder mehr als das.
Für die anderen bleiben zwei entgegengesetzte Gesichtspunkte, die beide stimmen und so banal wie die tägliche Lebenserfahrung sind: Erstens: Es gibt unverwechselbare Ansichten. Zum Beispiel Vater und Tochter, 1937 in Weisrußland an der Haustür fotografiert. Eine richtige Szene, wie er, groß, rauh und stolz, im Dunkel ds Eingangs lehnt, und sie, in heller Tracht, verschämt- kokett, sich draußen ansehen läßt. Oder die geschmückte, zarte Armenierin, eine Aufnahme von 1900, oder der bärbeißige Holländer von 1920. Zweitens: Manche Aufnahmen könnten Jahre früher oder später und womöglich fast überall spielen: der Este hinter dem Ochsenpflug, die weisrussischen Flachsrauferinnen mit Kopftüchern und weiten Röcken. Bilder aus dem Leben anderer europäischer Völker als dieser „würden oft das gleiche Bild bieten“, sagt der Katalog: eben wegen der europäischen Gemeinsamkeiten. S.P.
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