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Die Nackten und die Ruinen

■ Teil 15 der taz-Sommerserie: Der Textil-Buhmann von Göhren, die KdF-NVA-Häuserreihen von Prora

In seinem kleinen Arbeitszimmer in der Göhrener Kurverwaltung an der Rügener Südspitze sitzt Paul Bolle. Paul Bolle ist der bekannteste Kurdirektor 92, und das wurde er durch den Erlaß einer neuen Badeordnung. Seitdem ist der Göhrener Hauptstrand für Textil-Badende reserviert und Paul Bolle aus Münster in Westfalen als Wessi-Buhmann abgestempelt. Dabei ist er alles andere als der Typ, der sich ins Rampenlicht drängt, eher ein zurückhaltender Analytiker mit Blick für die Realitäten. Die sehen in Göhren so aus, daß in der Nebensaison bis zu 90 Prozent der Gäste aus den Altbundesländern kommen und sich an den Nackten nebenan stören. Die wirtschaftliche Not zwang ihn zu dieser Badeordnung, obwohl er selber prinzipiell am FKK-Strand badet.

Die gesellschaftliche Anpassung zwischen Ost und West verlange Kompromisse, sagt Paul Bolle. Nachdem die Ost-Bäder einen Schritt in diese Richtung gemacht hätten, seien jetzt die Bäder der Altbundesländer am Zug, dort überall für FKK-Strände zu sorgen. „Das regelt sich eigentlich von selber“, weiß die DLRG-Lebensretterin am Strand. Die FKK-Freunde rücken freiwillig in einer Ecke zusammen, ohne daß sie überhaupt von der neuen Ordnung wüßten. Der alte Strandkorb-Verleiher versteht die ganze Aufregung nicht: „So eine Regelung gab's in der DDR doch auch.“ Bloß hat sich keiner dran gehalten.

Eine Aldi-Tüte baumelt an einer Ruine hinter Maschendraht im Niemandsland, davor ein Schild: „Einsturzgefahr“. Bis vor kurzem existierte der Ort Prora, nördlich von Binz, auf der sozialistischen Landkarte nicht: Die Schmale Heide war NVA-Sperrgebiet. Verborgen zwischen Strand und Kiefernwald finden sich hier die Überreste eines „Kraft durch Freude“ (KdF)- Seebads, das von 1936 bis 1938 von den Nazis in Rekordzeit aus dem Boden gestampft wurde. Über sechs Kilometer reihen sich endlos sechsstöckige Häuser von jeweils 500 Meter Länge aneinander, jedes Haus verfügt über elf Seitenflügel mit Treppenhäusern und Versorgungsräumen. 20.000 Urlauber sollten einmal in diesem Komplex Erholung finden, dessen Fertigstellung mit Restaurants und Freizeitanlagen der Zweite Weltkrieg verhinderte; eine monotone Architektur mit dunkelgrauem Putz und Tausenden gleicher Fenster, eine verborgene Festung im Grünen, die den Russen so unheimlich war, daß sie nach dem Krieg Teile sprengten.

Den Rest übernahm die NVA. Nach deren Abwicklung stand das „Objekt“ leer, jetzt zieht neues Leben ein: Im ehemaligen NVA-Ferienheim „Walter Ulbricht“ wirbt ein Hotel mit billigen Zimmern, der Hotelier hat nichts anderes gefunden: „Wissen Sie, KdF ist lange her, das ist jetzt wie in Spanien auch.“ Das schlimmste sei, daß der Komplex überhaupt noch stehe. Auf der riesigen Freitreppe zum damals geplanten Festplatz hat es sich eine Motorrad-Clique gemütlich gemacht, der Strand ist belebt, das einzige, woran sich die Rügener stören, sind die Falschparker im Naturschutzgebiet. Vor dem Café glänzt in der Abendsonne eine Skulptur „Sportler“, eingeweiht 1976 — die Geschichte paßt nahtlos aneinander. Nur der Kellner im Café weiß von nichts. Er ist Afrikaner. Lutz Ehrlich

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