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„Komm, wir gehen für unser Volk“

Vor 50 Jahren wurde die jüdische und katholische Philosophin Edith Stein in Auschwitz ermordet  ■ Von Sabine Hatscher

Am 9.August 1942 verliert sich in einem unbedeutenden polnischen Ort, unweit von Krakau, die Spur zweier Frauen. Eine von ihnen, die Ordensschwester Theresia Benedicta a Cruce, ist besser bekannt unter ihrem bürgerlichen Namen: Edith Stein. Und der polnische Ort hat in der Geschichte eine mörderische Spur hinterlassen: Auschwitz. Wenige Tage zuvor, am Sonntag, dem 2.August, waren zwei SS-Männer im Karmelitinnenkloster der niederländischen Stadt Echt erschienen, um die Ordensfrau Benedicta und deren leibliche Schwester Rosa abzuführen. Beide wurden sofort deportiert. Wenige Tage später erreichten die Geschwister die letzte Station: die Rampe von Auschwitz. Beide Frauen wurden nicht für das Arbeitslager registriert, sondern sofort in die Gaskammern geschickt. Theresia Benedicta a Cruce und ihre Schwester Rosa wurden ermordet, weil sie einer jüdischen Familie entstammten.

Am 12.Oktober 1891 wurde Edith Stein in Breslau geboren. Dem hebräischen Kalender zufolge am 10.Tischri 5652, am Jom Kippur, einem der höchsten jüdischen Feiertage. Im Lyceum wurde die beginnende Wahrheitssuche, die sie ihr ganzes Leben hindurch nicht wieder loslassen sollte, nicht befriedigt. Doch während eines Aufenthaltes bei der Schwester Else und dem Schwager Max Gordon in Hamburg lernte sie eine religiös und traditionell ungebundene Lebensweise kennen. Max, ein Mediziner, machte Edith erstmals mit wissenschaftlichem Denken vertraut. Im Herbst 1911 immatrikulierte sich Edith Stein an der Universität Breslau für Germanistik, Geschichte und für ihre eigentliche Neigung: die Philosophie. Bald stieß sie auf das Werk eines großen zeitgenössischen Philosophen: die „logischen Untersuchungen“ Edmund Husserls. Edith Stein entdeckte die Phänomenologie.

Husserl wollte den direkten Weg zu den Erscheinungen freimachen, der normalerweise von den Vorurteilen über das, was da erscheint, verbaut ist. Sein Ziel war ein sogenanntes „reines“ Bewußtsein von den Dingen, wie sie objektiv sind. „Zu den Sachen selbst“ lautete die Maxime, der Edith Stein begeistert folgte, zunächst als Schülerin Husserls und, nach der Promotion, als seine Assistentin. Die Atmosphäre unter den Studenten glich einer Aufbruchstimmung. Die Abkehr vom kritischen Idealismus Kants brachte Edith Stein später auf die einfache Formel: „Alle jungen Phänomenologen waren Realisten.“

Edith Stein arbeitete intensiv und strebte die Habilitation an. Doch die Göttinger Fakultät lehnte ihre Habilitationsschrift ab. Und auch in Kiel und Hamburg bestanden keine Aussichten. Die Chancen einer Frau, noch dazu einer Jüdin, waren gleich Null. Edith Stein mußte umdenken.

Die frühen Jahre der Weimarer Republik markieren ihre persönliche Umbruchphase. Aus dieser Zeit stammt eine staatspolitische Abhandlung. Aber nicht nur irdische Herrschaftsmodelle waren ihr Thema, zunehmend reflektierte Edith Stein ihr eigenes Gottesbild. Seit ihrer Hamburger Zeit entschlossene Atheistin, war sie religiösen Fragen gegenüber dennoch aufgeschlossen, wobei sie nicht an den Grenzen der eigenen, jüdischen, Religion haltmachte.

Edith Stein befaßte sich fortan mit den großen Exerzitien des Ignatius von Loyola, dem Gründer des Jesuitenordens. Daneben ist es vor allem eine spanische Mystikerin, deren Gottesschau Edith Stein sehr stark nachempfinden konnte: die heilige Theresa von Avila. Theresa hatte sich im 16.Jahrhundert mit den Auswüchsen und Mißständen in Klerus und Ordensleben auseinandergesetzt. Die Begegnung mit ihrer Frömmigkeit war für Edith Stein der Auslöser, sich taufen zu lassen. Ihre Konversion war aber keine Absage an das Judentum. Sie erkannte klar die Berührungspunkte beider Religionen und leugnete nie, was das Christentum dem Judentum zu verdanken hat.

Dennoch war Ediths Übertritt zum Christentum für die Familie ein Schock. Ediths Nichte Susanne Batzdorff-Bieberstein urteilt über die Taufe und den späteren Klostereintritt der Tante: „Wir mögen zwar Kinder gewesen sein, aber wir waren uns der Ereignisse in Deutschland, die Juden betreffend, durchaus bewußt. Indem sie katholisch wurde, hatte unsere Tante ihr Volk im Stich gelassen. Ihr Eintritt ins Kloster bekundete vor der Außenwelt, daß sie sich vom jüdischen Volk absondern wollte. [...] Heute ist es mir klar, daß es von ihrem Standpunkt aus durchaus logisch war, doch für uns, ihre jüdischen Verwandten, konnte es niemals ein überzeugendes Argument sein. Eine Kluft war zwischen ihr und ihrer Familie entstanden, die nicht zu überbrücken war.“ — Edith Stein hat sich nicht pro forma taufen lassen, um aus dem Schatten zu treten, den Jüdin-Sein in Deutschland warf. Sie wollte keine „Eintrittskarte in die europäische Kultur“, wie schon Heinrich Heine es nannte, denn sie verachtete ihre Herkunft keineswegs. Sie war keine laue Christin, sondern, wie bei allen Dingen, auch hinsichtlich ihres Glaubens ganzheitlich orientiert. Sie wollte Leben, Arbeit und Gebet in Einklang bringen und sich, ganz wie ihr Vorbild Theresa von Avila, strenger Ordnung, Demut und Klausur beugen. Ihre Ziel war der Karmel.

Edith Stein änderte allmählich die äußeren und materiellen Umstände ihres Lebens. Sie trat eine feste Anstellung als Deutschlehrerin am Dominikanerinnenkloster St. Magdalena in Speyer an. Noch lebte sie außerhalb der Klostermauern, jedoch an der Schwelle klösterlichen Lebens, im Pfortenhaus. In religionsphilosophischen Arbeiten setzte Edith Stein den wissenschaftlichen Weg der Wahrheitssuche fort. Sie vertiefte sich in die Glaubenswahrheiten, die „quaestionis disputatae de veritate“ Thomas von Aquins. Dem weltlich Lebenden mag Edith Steins Werdegang irrational erscheinen, ja anachronistisch. Doch die Vernunft blieb bei ihr ganz und gar nicht auf der Strecke. Sie suchte nur nach neuen Wegen, sie mit dem Glauben in Beziehung zu setzen und mit ihrer eigenen Gotteserfahrung zu füllen. Und sie verglich die moderne Phänomenologie ihres großen Vorbilds Husserl mit den Lehren des heiligen Thomas: „Es ist eine Zeit, die sich mit methodischen Erwägungen nicht mehr zufriedengibt. Die Menschen sind haltlos und suchen nach einem Halt. Sie wollen greifbare, inhaltliche Wahrheit, die sich im Leben bewährt. Sie wollen eine ,Lebensphilosophie‘. Das finden sie bei Thomas.“

Schon bald nach der Machtergreifung verboten die Nazis Edith Stein jede öffentliche Arbeit in Vorträgen und wissenschaftlichen Kollegs. Daher wandte sie sich dem kontemplativen Orden der unbeschuhten Karmelitinnen zu, der auf Theresa von Avila zurückgeht. 1935 wurde aus Edith Stein Schwester Theresia Benedicta a Cruce — die „Gesegnete vom Kreuz“.

Einige Jahre später, am 31.Dezember 1938, gelang ihr die Flucht vor den Nazis in die Niederlande. Sie lebte fortan im Karmel Echt. Dort verfaßte sie ihr Testament: „Ich bitte den Herrn, daß er mein Leben und Sterben annehmen möchte für die Heiligung und Vollendung unseres heiligen Ordens, namentlich des Kölner und des Echter Karmels, zur Sühne für den Unglauben des jüdischen Volkes, und damit der Herr von den Seinen aufgenommen werde und sein Reich komme in Herrlichkeit...“

Also war sie doch so kleinmütig, vom „Unglauben des jüdischen Volkes“ zu sprechen? Glaubte sie wirklich, daß Gott sein Volk Israel verstoßen habe? Hielt sie sich tatsächlich für eine christliche Märtyrerin? Über die Antworten auf diese Fragen kann man letztlich nur spekulieren. Immer wieder wird ein Satz zitiert, den sie bei der Verhaftung in Echt zu ihrer Schwester Rosa gesagt haben soll: „Komm, wir gehen für unser Volk.“ In seiner Predigt anläßlich der Seligsprechung Edith Steins am 1.Mai 1987 nannte Papst Johannes Paul II. sie eine „Jüdin, Philosophin, Ordensfrau, Märtyrerin“.

Anläßlich dieser Seligsprechung kam es weltweit, vor allem von jüdischer Seite, zu Kritik an verspätetem Triumphalismus und krampfhafter Sinngebung (siehe auch taz vom 2.Mai 1987). Edith Stein ist den Weg ins Vernichtungslager nicht für andere gegangen, wie etwa Janusz Korczak seine Waisenkinder begleitete. Sie wurde für ihr Judentum, ihre sogenannte „nichtarische“ Herkunft in Auschwitz ermordet, nicht aber für ihr Christentum. Streng genommen erfüllte Edith Stein keineswegs die Voraussetzungen einer Seligen, sie erlebte keine Wunder und wurde nicht aus Haß gegen den christlichen Glauben ermordet. Sie im nachhinein, allein auf ihr Testament gestützt, zur christlichen Märtyrerin hochzustilisieren, grenzte in den Augen der Kritiker an billige Vereinnahmung. Schon ihr Biograph James Raphael Baaden nannte es „den Holocaust irgendwie katholisieren“. Der kirchliche Standpunkt in diesem Prozeß ist der umstrittenen Karmelgründung auf dem Gelände von Auschwitz 1984 vergleichbar. Das vieldiskutierte Kreuz am Ort jüdischen Leidens wurde von vielen als geschmacklos empfunden, als Ausdruck einer ungebrochen antijüdischen Haltung der Kirche, das Judentum in seinem Selbstverständnis nicht zu akzeptieren.

In Hamburg-Allermöhe entsteht derzeit die katholische Edith-Stein- Kirche. Ist hier eine Wiederauflage dieses ignoranten Welt- und Glaubensbildes zu erwarten? Die Glocke dieser Kirche soll nicht in einem hohem Turm verschwinden, sondern ist als deutlich sichtbares Mahnzeichen konzipiert. Eingraviert ist ein Satz Edith Steins: „Wer die Wahrheit sucht, sucht Gott.“ Übermorgen findet die Glockenweihe statt. Geehrt werden soll, so heißt es, „eine moderne Frau, die in die heutige Zeit paßt“. Doch die Auseinandersetzung mit dem heißen Eisen der Seligsprechung, etwa in Diskussionen und Arbeitsgruppen, wird peinlich gemieden.

Was immer Edith Stein auf dem Weg in den Tod bewegt haben mag, Verachtung für ihre Herkunft war es sicher nicht. Ihre Solidarität mit dem Judentum hatte sie bereits in den frühen 30er Jahren bezeugt: „Aber jetzt ging mir auf einmal ein Licht auf, daß Gott wieder einmal schwer seine Hand auf sein Volk gelegt habe und daß das Schicksal dieses Volkes auch das meine war.“

Edith Steins Werke in 14 Bänden sind bei Herder erschienen.

Einige Texte wurden erstveröffentlicht in: „Edith Stein: Aus der Tiefe leben“, herausgegeben von Waltraud Herbstrith, Kösel Verlag, 193Seiten, 29,80DM.

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