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Mostar: Wo der Zufall übers Leben entscheidet

In der kroatisch besiedelten westlichen Herzegowina tummeln sich drei Armeen/ Mostar, der Hauptort der Region, wo noch immer täglich Dutzende von Geschossen der serbischen Artillerie einschlagen, ist inzwischen eine Trümmerlandschaft  ■ Thomas Schmid aus Mostar

Bis zum 24. Juni 1981 war Medjugorje ein ganz gewöhnliches Dorf im Westen der Herzegowina. Es gab eine Kirche, ein Restaurant, das Büro des Kommunistischen Bundes, das Ehrenmal für die im Befreiungskrieg gefallenen Partisanen, eine Spelunke für die Alten und eine Diskothek für die Jungen. Nichts deutete auf das Ereignis hin, welches das Gesicht des Dorfes so vollkommen verändern sollte.

Das Wunder kam buchstäblich aus heiterem Himmel. Es war eine junge anmutige Frau, ein Kleinkind im Arm, die an einem wolkenfreien Junitag einer Gruppe von sechs Halbwüchsigen auf einem Berg oberhalb von Medjugorje erschien: die Mutter Gottes, die Heilige Maria oder die Gospa, wie man sie hier nennt. Die Kinder bestanden hartnäckig darauf, alles mit eigenen Augen gesehen zu haben. Ihre Aussage machten sie nach dem Vorfall unter Eid. Eine psychiatrische Untersuchung förderte keine pathologisch relevanten Fakten zutage — und so wurde in Medjugorje gebaut: Pensionen, Restaurants und Souvenirläden allenthalben. Eine Million Pilger kamen bald jährlich ins Dorf, das sich nun mit dem portugiesischen Fatima und dem französischen Lourdes durchaus messen konnte.

Heute sieht Medjugorje allerdings ziemlich ausgestorben aus. Die holzgeschnitzten Jesulein, die Marien aus Gips, Rosenkränze und Heiligenbilder sind zu Ladenhütern geworden. In den großen Cafés, wo sich einst ermüdete Pilgerer von den Strapazen der Wallfahrt erholten, lümmeln sich nun Soldaten. Eine der vielen Fronten in diesem unübersichtlichen Krieg liegt 25 Kilometer vom Dorf entfernt, hinter Mostar, dem Hauptort der Herzegowina.

Zdravko Susac sitzt in einem dieser ehemaligen Ruhestätten der Pilgerer, im Cafe Bekija. Noch bis vor kurzem hatte er eine eigene Transportfirma. Nun trägt er die Uniform der HVO (Kroatischer Verteidigungsrat), einer Truppe, die sich im wesentlichen aus bosnischen Kroaten zusammensetzt. Seit einem Jahr hätten er und seine Freunde sich auf diesen Krieg vorbereitet, sagt er, zu einer Zeit schon, als Alija Izetbegovic, der Präsident von Bosnien-Herzegowina, noch an eine friedliche Lösung geglaubt habe. „Hätten wir uns nicht schon damals bewaffnet, stünden wir heute gewiß noch schlechter da.“ Susac hat sich sein automatisches Gewehr, ein israelisches Fabrikat der Marke Uzi, selbst gekauft — für tausend Mark. Wo, will er nicht verraten, aber er weiß: „In Frankfurt zahlst du dafür mindestens dreitausend“.

Izetbegovic: Naivling oder feiger Verräter

Die Truppe, die vor der Kirche von Medjugorje lagert, ist auf Izetbegovic nicht gut zu sprechen. Im schlimmsten Fall halten ihn die Soldaten für einen feigen Verräter, im besten Fall für einen politischen Naivling. Aber er ist ohnehin nicht ihr Präsident. Ihr oberster Befehlshaber ist Mate Boban. Der hat anfang Juli den „Kroatischen Staat Herceg- Bosna“ ausgerufen und sich selbst zu dessen Präsidenten gekürt. Während Bosnien zum großen Teil von serbischen Kräften kontrolliert wird und der legitime Präsident der international anerkannten Republik nur über Teile der Hauptstadt Sarajevo und einige umzingelte Städte gebietet, erstreckt sich das Reich des Mate Boban über nahezu die gesamte westliche Herzegowina.

Im Abkommen, das Alija Izetbegovic und Franjo Tudjman, Präsident Kroatiens, am 21.Juli in Zagreb unterzeichnet haben, wird die HVO, Bobans Armee, zwar als „Bestandteil der vereinigten Streitkräfte der Republik Bosnien-Herzegowina“ anerkannt. Doch für Izetbegovics Truppe, die TO-BiH (Territorialverteidigung Bosnien-Herzegowinas), in der neben Muslimen und bosnischen Kroaten auch einige bosnischen Serben kämpfen, haben Susac und seine Kameraden nur Verachtung übrig. „Die scheuen den Kampf“, spotten sie. In der Tat haben sich viele TO-Einheiten bei Angriffen serbischer Freischärler schnell zurückgezogen oder gar aufgelöst. Das ist durchaus verständlich, denn sie haben den Panzern und der schweren Artillerie der Serben wenig entgegenzusetzen. Hier in der Herzegowina ist die Präsenz der TO nur symbolischer Natur.

Doch Izetbegovic und seine TO haben in der Auseinandersetzung mit dem eigenwilligen Boban und seiner HVO einen eigentümlichen Partner gefunden: die HOS, den militärischen Arm der von Dobroslav Paraga angeführten HSP. Sie erhielt bei den kroatischen Parlamentswahlen am Wochenende immerhin knapp sieben Prozent der Stimmen. Die HOS-Mannen sind ganz in schwarz gekleidet, verstehen sich als Mitglieder einer Elitetruppe und pflegen rechtsradikales Gedankengut. Ihr Hauptquartier haben sie in Ljubuski, dem Nachbarort von Medjugorje. „Bis an die Drina“, wird man hier als Besucher mit gestrecktem Arm auf deutsch begrüßt. Während die HVO sich als Verteidigungstruppe überwiegend kroatisch besiedelter Gebiete Bosnien-Herzegowinas versteht, kämpft die HOS für ein Großkroatien. Und das reicht mindestens bis zur Drina, dem Grenzfluß zwischen Bosnien und Serbien. An der Drina, auf dessen bosnischer Seite keine Kroaten, sondern nur Muslime und Serben siedeln, endete auch die faschistische kroatische Ustascha- Republik von Hitlers Gnaden. Deren Führer Ante Pavelic, verantwortlich für hunderttausendfachen Mord, hält die HOS in Ehren. Sein Konterfei prangt an den Windschutzscheiben der Truppe und wird vor dem Hauptquartier feilgeboten.

„Der Unterschied zwischen der kroatischen Ustascha und den serbischen Tschetniks im Zweiten Weltkrieg“, belehrt Blaz Kraljevic, Oberkommandierender sämtlicher HOS- Truppen in der Herzegowina, „bestand darin, daß die Ustascha nur so viele Leute töteten, wie absolut notwendig war, während die Tschetniks umstandslos alle massakrierten, derer sie habhaft werden konnten. Und so ist es auch heute wieder. Wir töten nur, wenn wir müssen.“ Der Weg zu Kraljevic, ein Mann, dessen gutmütiges Gesicht einem zufriedenen Familienpapa gleicht, führt an einer Reihe martialisch gekleideter Männer vorbei. Sie tragen Eiergranate und Dolch im Gürtel, das Gewehr geschultert oder in der Hand. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß sie ziemlich oft „töten müssen“. Das Geld, um die Waffen auf dem Schwarzmarkt zu erstehen, erhalte seine Armee aus Kreisen von Exilkroaten in Deutschland, den USA und Australien, gesteht der oberste HOS-Mann freimütig. „Da wird fleißig gesammelt“, sagt er. Das militärische Ziel seiner Truppe faßt er in zwei Wörtern zusammen: „säubern und rausschmeißen“. Aus Kroatien, „und dazu gehört meiner ganz persönlichen Meinung nach auch Bosnien-Herzegowina“, müßten die Serben raus. Alle Serben oder nur die Tschetniks, die serbischen Freischärler? Kraljevic lacht verlegen. So genau könne man das eben nicht unterscheiden, „Hauptsache, sie hauen alle ab“. Im übrigen gibt sich der rechtsradikale Haudegen, der im vergangenen Jahr zum erstenmal nach 26 Jahren australischem Exil — „ohne Anhang“ — in seine Heimat zurückgekehrt ist, optimistisch. Spätestens im Januar sei der Krieg vorbei, in drei bis vier Wochen hätten seine Truppen Sarajevo befreit.

Dem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul. Alija Izetbegovic und seine Regierung, die in der von serbischen Freischärlern umzingelten Hauptstadt festsitzen und alle Welt um militärischen Beistand anflehen, nehmen aufgrund der dramatischen Situation jede Hilfe an — woher sie auch immer kommen mag. So wurde nun offenbar auch die HOS als Teil der bosnischen Streitkräfte akzeptiert. Die schwarzen Mannen von Ljubuski sind sichtlich stolz darauf. Vor ihrem Hauptquartier haben sie Stellung bezogen. Auch einige wenige Frauen, ebenfalls in schwarzer Kampfmontur, stehen in ihren Reihen. Zum erstenmal werden feierlich drei Fahnen gleichzeitig aufgezogen: das Lilienbanner von Bosnien- Herzegowina, das rotweiße Schachbrett von Kroatien und die schwarze Fahne der HOS. Das halbe Dorf ist zusammengeströmt, um dem Schauspiel beizuwohnen. Blaz Kraljevic läßt sich umrahmt von Offizieren der TO ablichten. Von nun an sind sie Waffenbrüder. Auch wenn sie sich gegenseitig weiterhin mißtrauen werden.

In Mostar, der traditionellen Hauptstadt der Herzegowina und nun unverhofft auch „Hauptstadt“ des „Kroatischen Staates Herceg- Bosna“ — dessen „Präsident“ Mate Boban allerdings im Keller eines Hotels im 50 Kilometer entfernten Grude residiert — findet man sie alle wieder: die TO, die HVO und die HOS. Im Zentrum des Orts sind sie nun unter sich. Die etwa 50.000 Einwohner, die mit 15.000 Flüchtlingen in der Stadt zurückgeblieben sind, leben in den Außenvierteln. Über die Hälfte der Bevölkerung, die sich vor dem Krieg aus 35 Prozent Moslems, 34 Prozent Kroaten, 19 Prozent Serben und 12 Prozent „Jugoslawen“ (zumeist Abkömmlinge gemischter Ehen) zusammensetzte, ist geflohen. Von den Serben ist kaum jemand in der Stadt geblieben.

Die historische Altstadt, ein architektonisches Juwel mit einem malerischen türkischen Markt und einem halben Dutzend Moscheen, ist zerstört. Überall Trümmer und ausgebrannte Gebäude. Von den fünf Brücken, die über die Neretva führten, steht nur noch eine — die Alte Brücke, die der Stadt einst ihren Namen gab. In einem mächtigen Bogen spannt sich das 1566 fertiggestellte Bauwerk über die Schlucht. Doch die beiden wuchtigen Brückentürme — der eine diente als Gefängnis, der andere als Pulver- und Munitionsmagazin — gleichen Ruinen. Ganz vereinzelt leben nur einige alte Menschen noch in dieser gespenstischen Trümmerlandschaft.

In Mostar hat man mit dem Leben abgerechnet

Mühsam schleppen sie Plastikflaschen voll Trinkwasser von den Tankwagen, die die Soldaten aufgefahren haben, zu ihrer Wohnung. Es sind Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben als ihr Leben, und es scheint, als ob sie mit diesem bereits abgerechnet hätten. Niemand versperrt ihnen den Weg. Doch sie haben nicht mehr die Kraft zu fliehen, um anderswo ein neues Leben anzufangen. Und so haben sie es dem Zufall überlassen, ob es sie trifft oder nicht. Es — das sind die Granaten, die serbische Freischärler mit einer Zielgenauigkeit, wie sie eine Distanz von 20 Kilometer eben erlaubt, auf die Stadt abfeuern.

Jeden Tag schlagen zwei bis drei Dutzend der Geschosse ein. Beim Aufprall zersplittern sie. Die haarscharfen Metallpartikel dringen mit großer Geschwindigkeit in alles ein, was nicht hart wie eine Stahlplatte ist. Das Krankenhaus von Mostar ist voll von verwundeten Zivilisten und Soldaten. Viele von ihnen werden lebenslänglich querschnittsgelähmt, amputiert, verkrüppelt sein. Und jeden Tag werden Särge die wenigen hundert Meter vom Krankenhaus hinüber zum kleinen Park mitten in der Stadt getragen. Seit vier Monaten schon werden die Leichen hier und nicht mehr auf dem Friedhof am Stadtrand bestattet. An die 300 Grabstätten zählt das enge Areal inzwischen. Ein Dutzend Gruben sind bereits „auf Vorrat“ ausgehoben. Die Toten treffen so sicher ein wie das Amen in der Kirche.

Der letzte Tote heißt Smailhodzic Edina und ist im Alter von 25 Jahren gestorben. Als der Hodscha im grauen Überhang und mit weißem Turban das Klagelied anstimmt, schlägt mit ohrenbetäubendem Knall eine Granate ein — 500 Meter entfernt, wie später festgestellt wird. Die Trauergemeinde zuckt zusammen. Doch niemand rennt weg. Sechs Männer, die Hälfte von ihnen in Uniform, schaufeln in aller Eile das Grab zu. Es wird mit faustgroßen Steinen begrenzt, damit der nächste Regenguß den Grabhügel nicht wegschwemmt. Zum Schluß wird eine grüne Holztafel mit Halbmond und Stern und dem Namen des Verstorbenen in die lockere Erde gesetzt. Die Zeremonie auf dem Friedhof hat gerade zehn Minuten gedauert.

Es ist ein sonderbarer Ort, wo jetzt eine jahrhundertealte Tradition durchbrochen wurde. Zwischen grünen Tafeln stehen braune Holzkreuze und zwischen den braunen Holzkreuzen grüne Tafeln. Muslime und Christen werden nicht mehr getrennt begraben. Und in den christlichen Gräbern liegen nicht nur katholische Kroaten, sondern auch einige wenige orthodoxe Serben. Auch sie sind Opfer dieses Krieges, in dem hier niemand mehr einen Sinn zu erblicken vermag.

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