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Der Sonnenstaat Kalifornien ist pleite

Das von einer tiefen Rezession gebeutelte Land muß bereits Schuldscheine an Gläubiger ausgeben  ■ Aus Washington Andrea Böhm

Es gibt momentan nicht viele Politiker in den USA, die unpopulärer sind als George Bush. Einer davon ist Pete Wilson, der Gouverneur Kaliforniens. Dabei kann sich Wilson glücklich schätzen, daß er im Gegensatz zum Präsidenten dieses Jahr nicht zur Wiederwahl antreten muß: Der von ihm geführte Bundesstaat ist pleite und steht kurz vor einem ökonomischen und sozialen Desaster.

Das erste Stadium der akuten Krise begann am 1.Juli um null Uhr — eigentlich der Startschuß für das neue Haushaltsjahr. Doch der republikanische Gouverneur und die demokratisch kontrollierte Versammlung (das Äquivalent zum Repräsentantenhaus) konnten sich nicht einigen, wie man das Haushaltsdefizit von elf Milliarden Dollar in den Griff kriegen soll. Die Folge: Es wurde kein Budget verabschiedet. Dies ist in den letzten Jahren zwar immer wieder passiert, doch dieses Mal hat Vater Staat keine Rücklagen mehr, um die laufenden Kosten zu decken. Kalifornien kann seine Rechnungen nicht mehr bezahlen; zum ersten Mal seit 1936 müssen seine Gläubiger mit Schuldscheinen, sogenannten I.O.U.'s vorlieb nehmen. Das trifft den Lehrer, der auf sein Gehalt wartet, ebenso wie die Rechtsanwältin, die Einkommenssteuer zurückbekommt oder die Firma, die gerade die Highways instandsetzt.

Nun wollen die größten Banken Kaliforniens die Schuldscheine nicht mehr anerkennen. Die Krankenschwester oder der Bibliothekar, die bis dahin ihren I.O.U. wie einen Scheck bei der Bank einlösen konnten, werden ohne Bargeld wieder nach Hause geschickt. So scheint es nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis Schulen, Bibliotheken oder Krankenhäuser geschlossen werden. Es sei denn, Exekutive und Legislative einigen sich darauf, den mit 58Milliarden Dollar veranschlagten Haushalt endlich zu verabschieden. Doch beide Seiten haben sich in den Schützengräben der jeweiligen Parteien verschanzt. Mehr Steuern einzutreiben, wie die Demokraten vorschlagen, lehnt Gouverneur Wilson rundweg ab. Zu gut sind ihm noch die Prügel der eigenen Parteifreunde in Erinnerung, nachdem er letztes Jahr mit demokratischer Hilfe Steuererhöhungen durchsetzte. Vor allem in Kalifornien gilt dies unter Republikaner als eine ökonomische wie ideologische Todsünde. Stattdessen möchte Wilson bei der Gesundheits- und Sozialversorgung, vor allem aber im Erziehungsbereich drastisch kürzen. Zwei Milliarden Dollar will er allein bei den öffentlichen Schulen einsparen — Zahlen, die wiederum bei der demokratischen Mehrheit den Adrenalinspiegel steigen lassen.

Größte Rezession seit den 30er Jahren

Dabei haben sich letztere schon zu Haushaltskürzungen bereit erklärt, die vor zwei Jahren noch undenkbar waren: die Sozialhilfe soll um 4,5 Prozent reduziert werden, Angestellte der staatlichen Universitäten müssen Gehaltskürzungen um 4,7 Prozent befürchten, die Studiengebühren sollen erhöht werden, den kalifornischen Städten will man bei den staatlichen Zuschüssen erneut eine Milliarde Dollar streichen. So oder so, sagt Bob White, rechte Hand des Gouverneurs, „wir haben es mit fürchterlichen Optionen zu tun.“

Aus dem Sonnenstaat ist eine ökonomische Krisenregion geworden, in der alles immer noch schlimmer ist als im Rest des Landes. Die Auswirkungen der Rezession werden zusätzlich noch durch Strukturprobleme verschärft: Die größten Rüstungsunternehmen McDonnell Douglas, Lockheed, Hughes Aircraft und Northtrop, jahrelang wichtiges Standbein des kalifornischen Arbeitsmarktes, sind angesichts der Kürzungen im Verteidigungsetat mit Schließungen von Produktionsstätten, Massenentlassungen und Kurzarbeit auf Schrumpfkurs gegangen. Nicht viel besser geht es der einst florierenden Computerindustrie, die durch den gnadenlosen Preiskrieg auf dem Weltmarkt in massive Schwierigkeiten geraten ist. Viele Firmen haben die Produktion entweder nach Mexiko verlagert, wo die Lohnkosten niedriger sind, oder ziehen in Nachbarstaaten wie Arizona, Nevada oder Utah. Dort sind die Steuern niedriger und die staatlichen Auflagen für Firmenniederlassungen geringer. Und selbst die Tourismusindustrie, die dem Fiskus jährlich Einnahmen von rund sieben Milliarden Dollar beschert, rechnet in diesem Jahr mit einem deutlichen Einbruch. Angesichts der wirtschaftlichen Krise ist die Zahl der Arbeitsplätze in den letzten beiden Jahren um 500.000 zurückgegangen. Heute ist in Kalifornien jeder zehnte Erwerbstätige ohne Job; die Arbeitslosenquote liegt bei 9,5 Prozent — im Vergleich zu 7,8 Prozent im landesweiten Durchschnitt.

Unterdessen liegt auch der Grundstücksmarkt brach. Die Hausverkäufe gingen im Juli gleich um 14,5 Prozent zurück — im Vergleich zu rund zwei Prozent landesweit. Hinzu kommt eine Dürreperiode, die sowohl der Fisch- als auch der Agrarindustrie schwer zu schaffen machen. Nordkalifornien hat sich immer noch nicht ganz vom schweren Erdbeben in Loma Prieta 1989 erholt; Los Angeles wird sich auf absehbare Zeit nicht von den Folgen des Aufstandes im Frühjahr 1992 erholen. Hochkonjunktur verzeichnet zur Zeit nur eine Branche — die Umzugsunternehmen. Transportfirmen führen mittlerweile Wartelisten, seit der Exodus der Besserverdienenden begonnen hat. Sie ziehen entweder in die Vorstädte, in andere Bundesstaaten oder in den Norden Kaliforniens, wo die Wirtschaftskrise noch nicht so stark zu spüren ist.

Daß irgendwann der letzte Kalifornier das Licht ausmacht, muß allerdings niemand befürchten. Auf 30 Millionen ist die Zahl der Einwohner im letzten Jahr gestiegen. Der Bundesstaat ist Ziel von Immigranten aus Mexiko, Mittel-und Südamerika sowie aus asiatischen Ländern. 276.000 Zuwanderer verzeichneten die Statistiker 1991 — 88 Prozent davon kamen aus dem Ausland. Traditionell hat Kalifornien von seinen Immigranten immer profitiert — unter anderem, weil sie als billige Arbeitskräfte schamlos ausgenutzt werden können. Doch die Zuwanderung meist armer Neubürger wird in Kombination mit der Flucht der weißen Mittelklasse zur gefährlichen Spirale für den Staat. Das Steueraufkommen wird immer geringer, die Zahl derer, die den öffentlichen Sektor in Anspruch nehmen, immer größer.

Der Streit um die Kürzungen im Schulsektor ist da exemplarisch für einen grundsätzlichen Konflikt: Wie lange kann der Staat noch ein Minimum an Gemeinwohl garantieren, wenn seine besserverdienenden Bürger entweder wegziehen oder sich in ihren Vorstädten mit privater Polizei, privaten Schulen, privaten Straßen ihre eigenen Kleinstaaten schaffen? Hinter den Zäunen von Suburbia weiß man gar nicht, was ein „I.O.U.“-Schein ist.

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