Phantasie, die aus dem Mangel erwächst

■ Am 13. August beginnt das neunte Sommertheater-Festival auf Kampnagel mit dem Schwerpunkt Lateinamerika. Movimientos '92: 24 Compagnien aus 12 Ländern zeigen 31 Tanz- und Theaterproduktionen...

: 24 Compagnien aus 12 Ländern zeigen 31 Tanz- und Theaterproduktionen. Die taz sprach mit den Festivalleitern Dieter Jaenicke und Gabriele Naumann.

Dieter Jaenicke, war das sogenannte Kolumbusjahr für Sie nur willkommener Anlaß, das lateinamerikanische Theater einmal umfassend zu präsentieren, oder hat es den Programmacher mehr gereizt, Kritik und Kommentar zu dieser Feierlichkeit zu liefern?

Ehrlich gesagt ist das Kolumbusjahr für uns ganz pragmatisch die Möglichkeit gewesen, Geld für unser Projekt zu bekommen. Denn wenn man das seriös, mit einer langen Vorbereitungszeit und wirklicher Recherche angehen will, dann braucht man dafür eine Menge zusätzliches Geld. Das andere ist unsere ganz persönliche Haltung dazu, daß man 500 Jahre danach immer noch allen Ernstes von Entdeckung spricht. Es war der Anfang des größten Genozids der Geschichte.

Außerdem haben wir in Lateinamerika ganz schnell festgestellt, daß man dort das Datum nicht so wichtig nimmt. Ich glaube, der Großteil ist schon deshalb ziemlich indifferent, weil die Leute dort entsprechend ihren eigenen Wurzeln gar nicht so genau sagen können, auf welche Seite sie gehören.

Das heißt, die Compagnien, die jetzt hier sind, nehmen dieses Datum gar nicht auf?

In den Stücken zu einem Teil. Aber das ist nur eine Thematik von vielen verschiedenen und in den einzelnen Stücken nicht das vorherrschende Thema. Wir wollten in diesem Sinne auch überhaupt kein Thema vorgeben. Kriterium war für uns etwas ganz anderes: Wir haben solche Projekte gesucht, die sich mit lateinamerikanischen Themen und Autoren befassen.

Im Programmheft steht die schöne Formulierung „erkennbar Latino“. Was ist denn bitte „erkennbar Latino“?

„Erkennbar Latino“ ist für mich eher ein Sammelbegriff von ganz, ganz verschiedenen Dingen. Das hat mit ganz anderen Farben zu tun, mit anderer Mentalität, mit anderer Heransgehensweise an die Probleme. Und das kann man bei den Tanztheater- bis zu den großen Theaterproduktionen auch erken-

nen. Man wird aber auch erkennen können, daß eine Theatertruppe aus Brasilien oder aus Peru extrem unterschiedliche Themen, Zusammenhänge, Ausdrucksformen haben.

Was viele vielleicht vermuten, daß es ein sehr politisches Theater ist, ist ein gutes Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch der meisten Diktaturen so gar nicht mehr gegeben. Es gibt eher ein Aufatmen, sich jetzt auch anderen Themen stellen zu können, ohne in eine rein ästhetische, formelle Weiterentwicklung zu geraten. Es gibt diese postmoderne Ästhetik, die ungemein ausgefeilt ist, wie in Westeuropa, in Lateinamerika überhaupt nicht. Ein Thema Überfluß und Überdruß liegt in diesen Ländern einfach nicht an. Das ganze Programm wird dann als thematisches und künstlerisches Mosaik schon einen sehr interessanten Überblick geben.

„Movimientos 1992“ wird das größte aller Sommertheater-Festivals. Was bedeutet das für Sie persönlich?

Daß es größer ist von der Anzahl der Veranstaltungen her, bedeutet für mich gar nichts. Daß das so entstanden ist, liegt daran, daß wir uns wirklich bemüht haben, sehr unterschiedliche Aspekte von dem, was es dort an Theater gibt, deutlich zu machen. Daß es so groß ist, bedeutet für mich erst einmal nur, daß ich ein bißchen aufgeregter bin. Es ist aber bestimmt kein Präjudiz, daß wir sagen, so groß wollen wir in Zukunft immer sein.

Können Sie etwas zu den Arbeitsbedingungen in Südamerika sagen?

Kulturpolitik mit einem Plan zur Unterstützung gibt es in kaum einem Land. Verständlicherweise: Solange man existentiellste Probleme von Armut nicht lösen kann, kann man wahrscheinlich auch nicht mit Berechtigung dafür sorgen, daß ein paar Künstler sich ausprobieren dürfen. Es gibt aber in einigen Ländern sehr starke Unterstützungen durch Privatsponsoren und zwar teilweise in Umfängen und Beträ-

gen, die einem hier höchst erstaunlich vorkommen.

Ansonsten produzieren die meisten Gruppen praktisch ohne Unterstützung und sind darauf angewiesen, daß Schauspieler Engagements im Fernsehen haben. Die machen teilweise Produktionen ohne einen Pfennig Geld. So sind sie viel mehr ganz pur angewiesen auf die Kraft von Schauspielern, auf die Fähigkeit von Tänzern. Trotzdem gibt es Comapgnien, die ungeheuer phantasiereich produzieren, und zwar nicht im Sinne eines armen Theaters. Das ist eben auch eine Fähigkeit, die es in Lateinamerika gibt: Mit Katastrophen zu leben, mit dem Mangel. Das bringt auch wieder eine ganz spezifische Phantasie mit sich, die dann wieder einen Teil von diesem „erkennbar Latino“ ausmacht.

Es fällt auf, daß Autoren, sei es in ihrem Werk oder als Person, im Zentrum der Produktionen stehen. Liegt das an der Auswahl, oder ist das ein Charakteristikum des dortigen Theaters?

Es liegt sicher zum Teil an der Auswahl. Es gibt aber auch ein Phänomen. Für viele Compagnien sind Texte von Autoren erst einmal Ausgangspunkt. Ihr Umgehen mit den Texten ist aber ein ganz anderes als hier. Es ist oft ein radikales Wegschmeißen des Textes. Es gibt ein ganz freies, assoziatives Umgehen damit. Das ist vielleicht etwas ganz typisch Lateinamerikanisches.

Die Vermittelbarkeit ist ja in diesem Jahr ein besonderes Problem, weil man weder die Gruppen kennt, noch die Sprache spricht und auch die Inhalte erst einmal fremd sein werden.

Was die rein sprachliche Vermittlung betrifft, da haben wir wirklich alles getan. Es gibt für jede Produktion eine individuelle Form der Übersetzung. Ansonsten glaube ich, daß wir hier ein Publikum haben mit einer großen Bereitschaft, sich einzulassen. Und wenn man wirklich etwas von dem Kontext verstehen will, dann gibt es sehr, sehr viel Angebote, sich zusätzlich zu informieren.

Wie sind die Erwartungen in bezug auf den Publikumszuspruch?

Da gibt es etwas im Umgehen mit meiner eigenen Aufgeregtheit: Ich frage grundsätzlich nie nach dem Vorverkauf, ich will das nicht wissen. Ich glaube aber, daß wir nach so vielen Jahren Sommertheater ein Publikum haben, das von uns erwartet, daß wir immer wieder etwas anderes anbieten und daher denke ich, das Publikum wird schon kommen.

Wird denn die Gastronomie ein wenig gastlicher sein als im letzten Jahr?

Davon gehe ich aus. Wir haben sehr viel mit den Gastronomen geredet, aber wir haben natürlich auch nicht wirklich Einfluß. Doch ich denke, es gibt diesmal viele gute Ideen.

Gabriele Naumann, Sie haben das Rahmenprogramm für „Movimientos“ gestaltet. Die Podien sind prominent setzt und bieten vielfältig Themen. Eine Konsequenz aus dem letzten Jahr, wo das Rahmenprogramm mager war?

Die beiden Festivals sind nicht miteinander zu vergleichen. Das Projekt dieses Jahr läutet für uns einfach eine andere Dimension von Festivals ein, aber logischerweise wollten wir dieses Jahr auch die andere Seite der Medaille präsentieren. Als kritischer Veranstalter kann man sich dieser Diskussion um die 500jährige Geschichte natürlich nicht entziehen. Und wir glauben, daß wir für eine Integration des zeitgenössischen Theaters aus Lateinamerika in den allgemeinen Kontext von Welttheater etwas tun können.

Im Angesicht des Fremden müssen wir aber auch Fragen an das Theater stellen. Es ist das erste Mal, daß wir mit einem so großen Forum versuchen, eine Öffnung für das Publikum zu schaffen. Außerdem fanden wir es wichtig, Leute dabeizuhaben, die in den Ländern Bescheid wissen und die grundsätzlichen Geschichten der Compagnien kennen. Durch deren ganz praktische Erfahrungen kann man einen Zugang zum Theater und natürlich auch zur sozialpolitischen Situation bekommen. Dabei ging es weniger um ein interpretierendes Herangehen als um Fragen an die Leute. Es kommt auf den eigenen Standpunkt der Leute dort an.

Die Fragen stellten Mechthild Bausch und Till Briegleb