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Gelegenheit sehr, Anlaß weniger

■ Piazza Virtuale, die Tele-Interaktion zum Mitmachen von Syke bis Tokyo / Eine lange Nacht im Kairo

Hallo hier Bremen. Here is Bremen, wo bleibt Riga/Zürich/Kassel? Die Chatbox zeigt ihr Interface auf der Hotline, und wir befinden uns inmitten telematischer Interaktion. Van Gogh TV als special projekt of DOKUMENTA 9 hat auf die Piazza Virtuale des „Kairo“ in Walle zur medienexperimentellen Party geladen: 2 Uhr Ortszeit (morgens, you know). Zum Kreise jener, die hier zu dieser Stunde immer hocken, hecheln, halbe Liter trinken, hat sich viel junges Volk mit transzendenten T-Shirts und allerlei Schirmmützen gesellt, ausgewiesen durch jene semiprofessionellen Gesichter, die man sonst nur bei Auditions und Aufnahmeprüfungen in Filmhochschulen und Kreativ-Akademien bewundern kann. Die wunderschönen Mädchen der Animations-Crew: SchwarzWeiß-Design, Color- Design. Bei Bedarf wird Hippe- hopper-Lächeln eingeschaltet. Und alles so heiß hier... die Scheinwerfer, die vielen anderen Stromverbraucher. Wie im richtigen Fernsehen. Der Blick auf den Bildschirm. Partybegleitend sozusagen. Hallo hier Torsten / mein Modem hat sich heißgewählt / AMIGA 87 / guter Jahrgang das / meine Hard-Disc ist voll / wir haben auch einen Torsten / auch Torsten ist voll. Keine Kommunikation endet mit ALLES ROGER, weil: Im CB-Funk sind wir hier nicht.

Wo Menschen sind, da ist Musik. Interaktiv-intergalaktisch legt sich Herr Alpha Halley Szigethy mit gewohnter Intensität ins Zeug. Die AnimateurInnen dancen, was das Zeug hält. Schüttel das Beinchen, dreh den Arm und achtet doch bitteschön aufs richtige Deo, denn mittlerweile stinkt's im Dschungel telematischer Kommunikation nach Affenpisse. Kurzfristig wird der Blick auf weitere Interaktivitäten durch ein hellrotes Kleid mit Preisschild dran verwehrt, dessen Trägerin im Rückenausschnitt ein geschmackvolles Rücken-Tattoo mit Sonne offenbart, wie es sofort im Rosenthal-Porzellanstudio Verwendung finden könnte. Tres chic sozusagen. Aus Delmenhorst möchte einer ein Klavier hören und eine Gitarre, und es spielt ein Klavier, und es spielt eine Gitarre. Das Schlaraffenland der kleinen Wünsche ist aus der Steckdose zu haben / Atomkraft jawollja. Und wieder flackert der Bildschirm. Bist du ein Studi / Nein / aber mein Bruder studiert / Mathe / Was studierst denn / du??? / Informatik / Zürich grüßt Bremen. Und Walle grüßt den Rest der Welt. DIE BESTEN KOPIEN SIND DIE, DIE DIE LÄCHERLICHKEIT SCHLECHTER ORIGINALE ERKENNEN LASSEN, raunt uns in diesem Moment aus dem interaktiven Dunkel des 17.Jahrhunderts La Roche Foucault ins pralle telematische Zeitalter hinein.

Assistiert wird diesem Gedanken mutmaßlich ohne Absicht durch den örtlichen Gewährsmann von Van Gogh TV, Herrn Ronald Gonko. Dieser erwarb sich , wie von Herrn Tom Gefken beiläufig und dennoch respektvoll am Tresen erläutert, erhebliche Verdienste als Rockstar bei den HIJACK-JUMBOS, aber das gehört nun nicht hierher. Ronald Gonko also sagt über den interaktiven telematischen Prozeß: „Keine Religion ohne Schuld.“ Und sonst auch noch eine Menge, aber die konzentrierten Haschisch-Dämpfe eines berühmten einheimischen Filmemachers am Nebentisch verwirren des Chronisten Sinn, und er vermag den Erläuterungen nur unzureichend zu folgen.

Jedenfalls: Keine Religion ohne Schuld. Dies mag auch gelten für den Esperanto-Glauben, daß Gelegenheit zur Kommunikation auch Anlaß für Kommunikation wird.

Der interaktive telematische Prozess entzündet den Enthusiasmus seiner Protagonisten, läßt aber wohl die Gemeinde kalt trotz aller Sauna-Temperaturen. Dennoch wechselseitiges Amüsemang: Kairo-Stammgäste und Piazetta-AktivistInnen erfreuen sich wechselseitig am jeweiligen Anderssein. Dem Nervenzusammenbruch nahe sind mittlerweil die liebe Annette, der coole Thilo und die verehrungswürdige Katja vom Kairo-Team: Will das denn nie ein Ende nehmen? Es nimmt. Und jetzt wird das alles Fernsehgeschichte: Van Gogh TV sendet auf Dreisaat. Am nächsten Samstag um 2 Uhr früh.

Unsere uneingeschränkte Bewunderung aber gilt einem Projekt, das eine solch umfassende Kollektion von Spendierhosen zusammengrabbeln konnte: Beispielsweise Telekom, Systematics, Amstrad, Sharp und Commodore, PDO und EDS, Saturn Hansa und sogar die nackten Männer vom Medienreferat der Senatorin für Kultur und Ausländerintegration, denen man doch gemeinhin kaum in den Beutel fassen kann. Immerhin wird als Prime Sponsor der Dr. Robert Fleck, Curator for the Minister for Education and Art aus Austria genannt. Und das macht einmal mehr deutlich, welch hohe Gunst die Kunst des Schneiderns neuer Kleider für den Kaiser im Lande des Herrn Udo auch heute noch genießt. Live ist life. UrDrü

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