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Wunsiedel — Wallfahrtsort der Neonazis

Rechtsextremisten aus dem In- und Ausland mobilisieren zum „Gedenkmarsch“ für den Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß/ Gerichte überprüfen Versammlungsverbot/ Bürgermeister Rothe sorgt sich um den Ruf seiner Kleinstadt  ■ Aus Wunsiedel Bernd Siegler

„Ich bin doch hier der ärmste Mann“, klagt der Sozialdemokrat Otto Rothe, Bürgermeister der oberfränkischen Stadt Wunsiedel. Nicht daß Rothe Schwierigkeiten hätte mit den 120.000 Besuchern, die innerhalb von zwei Monaten die Luisenburg-Festspiele stürmen, oder daß die im Ort produzierten weltberühmten „Sechsämtertropfen“ vor einer Absatzkrise stünden. Rothe macht sich Sorgen um den Ruf der 10.000 Einwohner zählenden Stadt. Am 15.August wollen Tausende von Neonazis in die Kleinstadt ziehen, um den einstigen Ehrenbürger der Stadt, den Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß, hochleben zu lassen.

Schon bevor Heß am 17. August 1987 als 93jähriger im Gefängnis von Berlin-Spandau starb, wurde er in der rechtsextremen Szene als „Märtyrer für den Frieden“ gefeiert. Seitdem er aber im März 1988 im Familiengrab in Wunsiedel beigesetzt wurde, entwickelte sich die oberfränkische Festspielstadt zum Wallfahrtsort für Rechtsextremisten aller Couleur und aller Nationalitäten.

Bereits zwei Monate nach der Beisetzung kündigte der inzwischen verstorbene Neonazi-Führer Michael Kühnen an, daß Wunsiedel zukünftig nicht mehr zur Ruhe kommen würde. Kühnen sollte recht behalten. Beim 1. „Rudolf-Heß-Gedächtnis- Marsch“ trafen sich im August 1988— organisiert von dem Neonazi Berthold Dinter aus Rheda und dem Chef der Hamburger „Nationalen Liste“, Christian Worch — nur 120 Alt- und Neonazis in Wunsiedel.

„Ehre und Gerechtigkeit für Deutschland“

Zwei Jahre später marschierten schon etwa 1.000 Rechtsextremisten in Viererreihen durch die Straßen der Kleinstadt, skandierten „Rotfront verrecke“ und „Rudolf Heß Märtyrer“. Knapp 2.000 GegendemonstrantInnen versuchten vergeblich, dies zu verhindern. Kühnen jubilierte, daß in Wunsiedel die „Rechte ihre Organisationsegoismen“ überwunden habe. Christian Worch freute sich, daß „Wunsiedels Straßen uns gehört haben“.

„Die guten Bürger des Nationalen Lagers, die Schlips- und Kragen- Träger und viele ältere Leute, die aus Angst vor Steinwürfen zu Hause geblieben sind, werden sich anschließen“, prophezeite Worch für das Jahr 1991. Etwa 2.000 Neonazis versammelten sich dann allerdings in Bayreuth zur bis dahin größten rechtsextremen Kundgebung in der Bundesrepublik. Deutsche und österreichische Neonazis wurden dabei von Gesinnungsfreunden aus Großbritannien, Frankreich, Belgien, Dänemark, Spanien und Italien unterstützt. Angesichts eines generellen Versammlungsverbotes für den gesamten Landkreis Wunsiedel waren sie kurzerhand in die Wagner- Stadt ausgewichen.

Kurz nach dem Aufmarsch in Bayreuth begannen im rechtsextremen Lager die Vorbereitungen für den 5. Todestag von Rudolf Heß in diesem Jahr. Über zwanzig Organisationen sind im Sammelaufruf „Auf nach Wunsiedel '92“ als Kontaktadressen aufgeführt. Sätze wie „Überwindet Trennendes, es geht um Ehre und Gerechtigkeit für Deutschland“ unterstreichen die Bedeutung von Wunsiedel und von Heß' Todestag als Kristallisationspunkt für den deutschen und internationalen Rechtsextremismus.

In dem Flugblatt begründet der Deutsch-Kanadier Ernst Zündel auch, warum Heß geehrt werden soll. Er sei ein „lebendiger deutscher Held gewesen und habe „nie seinen Freund und Führer“ verraten. Als zentrale Kontaktadresse für das Neonazi-Treffen firmiert das „Amt für Volksaufklärung und Öffentlichkeitsarbeit AVÖ“ in München. Dementsprechend wollen sich am 14. August denn auch Spanier, Franzosen, Italiener und Münchner „Kameraden zu einem gemütlichen Beisammensein“ in der bayerischen Landeshauptstadt treffen.

Für die Organisation des Aufmarsches ist entscheidend, daß sich die rechtsextremen Gruppierungen auf ein regionales neonazistisches Umfeld stützen können. So fungiert Kai Dalek aus dem oberfränkischen Steinwiesen als Ansprechpartner für „Koordination, Durchführung und aktuelle Information“. Dalek ist Gauführer der von Kühnen initiierten „Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front“. Günter Kursawe als Kreisvorsitzender der „Deutschen Alternative“ in Lichtenfels und der Kronacher Jürgen Sünkel von der „Frankenfront“ gelten als weitere Hauptakteure in Oberfranken.

„Die sind mittlerweile militärisch organisiert“, weiß Wunsiedels Bürgermeister Rothe aus seinen Gesprächen mit der Polizei. Deshalb werde die Stadt am kommenden Wochenende hermetisch abgeriegelt. Auch der kleinste Feldweg, der als Schlupfwinkel für angereiste Neonazis dienen könnte, soll mit schweren Containern versperrt werden. Bereits seit letztem Samstag patrouillieren Zivilbeamte durch die Stadt. Der Friedhof wird Tag und Nacht überwacht. Der Zutritt ist nur noch für Personen erlaubt, die sich der Grabpflege widmen wollen.

„Die Rolläden herunter, die Stadt verlassen“

Das für das kommende Wochenende vom Landratsamt Wunsiedel ausgesprochene generelle Versammlungsverbot für den ganzen Landkreis hält Otto Rothe für das einzige Mittel, die rechtsextremen Wallfahrer von ihrem Vorhaben abzuhalten. Inzwischen hat auch das Ordnungsamt der Stadt Bayreuth den für die Wagner- Stadt angemeldeten Aufmarsch der Rechten am 15. August als Ersatzveranstaltung für den in Wunsiedel verbotenen Heß-Gedächtnismarsch untersagt.

Gegendemonstrationen hält der seit Mai 1990 amtierende sozialdemokratische Bürgermeister für grundverkehrt. „Das schaukelt sich alles auf.“ Es gehe doch nicht an, „daß unsere kleine Stadt von Demonstranten überrannt“ werde. So wurde auch eine kleine Demonstration eines „Antifa-Bündnisses Wunsiedel“ am letzten Samstag in Wunsiedel kurzerhand verboten.

Über die Genehmigung einer bundesweiten antifaschistischen Demonstration am kommenden Samstag ist noch nicht entschieden. Eine Vielzahl von antifaschistischen Initiativen und Gruppierungen aus ganz Deutschland haben in Bayreuth eine Demonstration sowie drei Autonkonvois angemeldet, die am Samstag früh in Würzburg, Plauen und Nürnberg starten sollen. Das Bayreuther Ordnungsamt will heute über die Genehmigung der Gegenaktionen entscheiden.

Wie in den Jahren zuvor werden die Verwaltungsgerichte das letzte Wort über die Demonstrationen sprechen müssen. Sollte der Aufmarsch der Rechten in Wunsiedel dann genehmigt werden, will Otto Rothe seine Bürger aufrufen, die „Rolläden herunterzurollen und die Stadt zu verlassen“.

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