: Unter den Blinden ist der Einäugige König - Gott sei Dank!-betr.: "Schaler Beigeschmack beim Sonderflug nach Berlin-Tegel" von Walter Süß und "Die Jagd ist zu Ende - was bleibt, ist Bitterkeit und Scham" von Henning Pawel, taz vom 31.7.92
betr.: „Schaler Beigeschmack beim Sonderflug nach Berlin- Tegel von Walter Süß“ und „Die Jagd ist zu Ende — was bleibt, ist Bitterkeit und Scham“ von Henning Pawel, taz vom 31.7.92
Es gibt nicht vollkommen unpolitische juristische Prozesse. Es gibt aber auch nicht historische Aufarbeitung von Diktaturen ohne juristische Dimension.
Unvermischt und ungetrennt wie die zwei Naturen Jesu Christi sind die politisch-moralischen und die rechtlichen Aspekte in den Blick zu nehmen. Gerade im Fall Honecker wird das deutlich:
Die DDR hat ein Recht installiert, das nicht nur moralisches Unrecht war, sondern auch juristisch relevante Umgehung bzw. Übertretung gerade zwangsläufig zur Folge hatte — aus politischen Gründen.
Natürlich konnte die Volkskammer 1982 in ihrem Grenzgesetz nicht formulieren: „Grenzverletzer sind zu erschießen.“ Gleichwohl läßt es sich wohl doch nachweisen, daß die Notiz 1974 im Nationalen Verteidigungsrat über Honeckers Satz: „Nachwievor ist von der Schußwaffe rücksichtslos Gebrauch zu machen ... und die Schützen sind zu belobigen“, im direkten Zusammenhang mit den „Grenzvergatterungen“ und den Todesschüssen an der Grenze (sowie den Minen und Selbstschußanlagen) standen.
Nicht gegen diesen direkten Zusammenhang, sondern für ihn spricht, daß auf diesem Weg bewußt Unsicherheiten produziert wurden, „organisierte Verantwortungslosigkeit“ (Bahro) herrschte, um sich der moralischen und juristischen Verantwortung zu entziehen (siehe Mauerschützenprozesse). Henning Pawel, der sonst so nett aus seiner Thüringer Heimat plaudert, argumentiert an dem auch historisch komplexen Zusammenhang haarscharf vorbei.
Zu behaupten, daß der, der hier juristische Aufarbeitung fordert, die deutsche Niederlage von 1945 negieren will, zeugt von naiver Unverfrorenheit.
Natürlich ist es mehr als bigott, den einen potentiellen Verbrecher zu verfolgen und den anderen nicht. Aber die Folgerung daraus zu ziehen, damit das Recht verwirkt zu haben, den zweiten zu verfolgen, wie es Pawels Argumentation nahelegt, wird dem, was seit 1945 eigentlich jedem Deutschen (egal ob links rechts, Ost oder West) deutlich sein müßte, nicht gerecht.:
Wer sich seiner moralischen und politischen individuellen Verantwortung zu entziehen versucht, der darf nicht damit rechnen, daß er dem Gericht entgeht. Dagegen hilft keine Flucht und kein(e) Mauern. Jochen Goertz, Initiative Recht
und Versöhnung, Berlin
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