Blutige Fehden am Hindukusch

■ 13 Jahre lang verband sie der gemeinsame Kampf gegen die proso-wjetische Regierung und die Rote Armee in Kabul. Nach dem Abzug der sowjetischen Armee und zugespitzt nach dem Sturz Nadschibul-lahs im April...

Blutige Fehden am Hindukusch 13 Jahre lang verband sie der gemeinsame Kampf gegen die prosowjetische Regierung und die Rote Armee in Kabul. Nach dem Abzug der sowjetischen Armee und zugespitzt nach dem Sturz Nadschibullahs im April vertieften sich die Gräben zwischen den rivalisierenden Widerstandsgruppen. Immer wieder flammten in Kabul Gefechte auf. Seit Montag tobt ein regelrechter Entscheidungskampf.

Als „Djahannam“, die Hölle, bezeichnete ein Mudjaheddin-Kommandant das, was in diesen Tagen in der afghanischen Hauptstadt Kabul geschieht. Für das Inferno sorgte auch dieses Mal der islamistische Paschtunen-Führer Gulbuddin Hekmatyar. Die Männer des „kleinen Khomeini“, wie der 43jährige afghanische Islamist genannt wird, beschießen die afghanische Metropole seit Tagen aus vielen Stützpunkten südlich von Kabul. Ganze Stadtviertel sind in Flammen aufgegangen und Tausende Menschen, meist Zivilisten, sind den Kämpfen zwischen der „Islamischen Partei“ und einer Koalition von Regierungstruppen und usbekischen Milizionären zum Opfer gefallen.

Dabei schien es noch vor kurzem, als würden die Waffen einstweilen schweigen. Nach langem Hin und Her hatte Hekmatyar seinen Stellvertreter Scharif als Premierminister nach Kabul geschickt. Dadurch wurde die „Islamische Partei“ an der provisorischen Regierung beteiligt. Kaum hatten die paschtunischen Islamisten ihre trojanisches Pferd in der afghanischen Hauptstadt, da erhob ihr Chef seine Stimme und forderte wieder einmal den Abzug der usbekischen Milizionäre von General Abdul Raschid Dostam aus Kabul. „Wir haben nicht all die Jahre gekämpft, um die Macht mit den Kommunisten zu teilen“, hatte Hekmatyar schon vor Monaten verkündet. Der „Kommunist“ Dostam, die „eiserne Faust Nadschibullahs“ gegen die moslemischen Rebellen, hatte zum Sieg von Verteidigungsminister Ahmed Schah Massud im Kampf um Kabul entscheidend beigetragen. Dank des Sieges im Kampf gegen Hekmatyar zu neuem Selbstbewußtsein gelangt, denken Dostams Leute heute nicht daran, ihr „geliebtes Kabul“ zu verlassen, zumal die Regierung ihre Hilfe gegen die islamistischen Machtanwärter bitter nötig hat.

Der Verbleib der usbekischen „Kommunisten“ in Kabul ist für Hekmatyar nur ein Vorwand, seine Angriffe gegen die Regierung fortzusetzen. Wie alle islamistischen Führer, die sich als Stellvertreter des Allmächtigen dünken, möchte Hekmatyar alle Macht innehaben. Sein Streben nach dem Gottesstaat verträgt läßt wohl kaum Platz für Pluralismus. Hinter dieser ideologischen Fiktion spielt der persönliche Ehrgeiz eine große Rolle. 14 Jahre lang wurde um Geld, Waffen und Posten in der pakistanischen Stadt Peschawar gekämpft, wo die afghanischen Mudschaheddin ihren Sitz hatten. Die Rivalität zwischen dem Tadschiken Massud und dem Paschtunen Hekmatyar steht auch für ein tieferes Problem des afghanischen Vielvölkerstaates, in dem das Volk der Paschtunen die größte ethnische Gruppe bildet. „Ich bin zwar ein Moslem, aber auch ein Paschtune“, sagte Hekmatyar noch vor kurzem vor seinen versammelten Anhängern in der Stadt Djalalabad.

Auf die Welle des nationalistischen Dünkels setzend, kann Hekmatyar der Sympathie seiner Stammesgenossen sicher sein. Daß die Tadschiken und Usbeken von Massud und Dostam in Kabul das Sagen haben, ist ein Dorn in paschtunischen Augen. 250 Jahre lang hatten die „Afghanen“, wie die Paschtunen sich selbst bezeichnen, das Land regiert. Etliche Konflikte zeigen sich, wenn auch religiös verbrämt, ebenso in dem anderen Kampf, der parallel zum Krieg zwischen Hekmatyar und Dostam läuft. Seit Tagen beschießen sich in der afghanischen Metropole die schiitische Gruppe Wahdat, die meist aus Hizara — Afghanen mongolischer Herkunft — bestehen, und die paschtunischen Kämpfer der Gruppe Islamischer Einheit. Es gibt in Afghanistan zwei schiitische Mudschaheddin-Gruppen. Eine von ihnen, die islamische Bewegung, ist an der neuen Macht mit zwei Ministern beteiligt. Ihr Chef, Ayatollah Mohseni, ist Regierungssprecher und Sekretär des neunköpfigen Führungsrates des höchsten Organs der Mudschaheddin-Herrschaft. Während die islamische Bewegung zu Teheran auf Distanz geht, ist ihre Konkurrentin, die Wahdat, von den iranischen Mullahs politisch und militärisch abhängig. Die Wahdat, eine Dachorganisation von neun Splittergruppen, ist beim Machtwechsel am Hindukusch leer ausgegangen. Ihre Forderung nach drei Ministerien hatten die anderen Gruppen abgelehnt. So steht sie zur Zeit in Opposition zur Regierung und arbeitet in der „Islamisch- nationalen Bewegung Afghanistans/ Nördliche Gebiete“. Diese versteht sich als Vertreterin der ethnischen Minderheiten Afghanistans. Einer ihrer Initiatoren ist wiederum General Abdul Raschid Dostam. Der Gegner der schiitischen Wahdat, die islamische Einheit Afghanistans, wird von dem paschtunischen Theologen Abdul Rasul Sayyas geführt. Die Gruppe wurde jahrelang von Saudi- Arabien mit Geld und Waffen unterstützt. Als Gegenleistung für die großzügigen Spenden aus der arabischen Halbinsel führte Sayyas unter seinen Männern eine Reihe wahhabitischer Riten ein.

Die blutige Fehde zwischen der schiitischen Wahdat und dem Wahhabiten ist nur die Spitze des Eisberges der noch schlummernden religiösen Konflikte im afghanischen Bergland. Afghanistan hat sich stets als Bollwerk der sunnitischen Rechtgläubigkeit verstanden. Achtzig Prozent der Afghanen sind Sunniten. Die Afghanen akzeptieren zwar, anders als die Wahhabiten, den Schiismus als eine islamische Ausrichtung. Dennoch kam es in der Vergangenheit immer wieder zu blutigen Verfolgungen der Schiiten. Unter König Abdur Rahman wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Zehntausende schiitische Hizara von den paschtunischen Kriegern abgeschlachtet und ihrer Weiden und ihres Ackerlandes beraubt. Während des „Heiligen Krieges“ gegen den gemeinsamen sowjetischen Feind traten religiöse und ethnische Konflikte in den Hintergrund. Nach dem Sieg des Islam brechen sie nun mit voller Wucht wieder auf. Ahmed Taheri