: »Es gibt kein Vergewaltigungswetter«
■ In 90 Prozent aller Vergewaltigungen sind Opfer und Täter allein/ Aber selbst wenn es Augenzeugen gibt, gucken diese oft weg, statt einzugreifen
Berlin. Am hellichten Tag in einem gutbesuchten Freibad: Ein Mann versucht ein kleines Mädchen zu vergewaltigen. Mehrere Badegäste sehen es, aber keiner schreitet ein. Zum Glück hören die Brüder ihre kleine Schwester schreien und holen Hilfe.
Anfang August, nachts in der Zimmerstraße zwischen Wilhelm- und Stresemannstraße: Eine taz-Redakteurin wird auf dem dunklen Mauerstreifen von einem maskierten Mann vergewaltigt, der ihr ein Messer an den Hals hält. Zwei Radfahrer strampeln vorbei. Der Hund des einen bleibt kurz stehen und bellt. Der Lichtkegel des zweiten streift die am Boden Liegenden. Trotzdem setzen die Radfahrer ihren Weg fort.
»Die Tendenz ist leider so, daß die Leute weggucken, egal ob es sich um eine Sexualstraftat oder ein anderes Delikt handelt«, konstatiert die Kriminalhauptkommissarin Heidrun Gessner bitter. Die 37jährige Frau ist stellvertretende Leiterin des Kommissariats für Vergewaltigung und sexuelle Nötigung von Opfern, die älter als 14 Jahre sind. Ihr Zuständigkeitsbereich erstreckt sich auf die südwestlichen und südöstlichen Bezirke in Berlin, von Steglitz über Schöneberg und Kreuzberg bis hin nach Lichtenberg, Köpenick und Treptow. Warum die Leute nicht eingreifen? »Sie haben Angst, involviert zu werden, und keine Lust, später als Zeugen aussagen zu müssen«, ist die Erfahrung der Kommissarin. Bei den Ostberlinern sei die Hilfsbereitschaft nach der Vereinigung der Stadt zunächst noch sehr groß gewesen. Inzwischen seien sie aber ganz genauso ignorant wie die meisten Westler.
In weit über 90 Prozent aller Vergewaltigungen sind Opfer und Täter allerdings allein. Im vergangenen Jahr wurden in Berlin 502 Vergewaltigungen angezeigt, 265 Fälle konnten aufgeklärt werden. Die Dunkelziffer ist weit höher, Fachleute schätzen, daß auf eine angezeigte Tat 5 bis 20 verborgene kommen. Zwei Drittel aller Vergewaltigungen, so Gessner, sind im weitesten Sinne Beziehungstaten. Täter und Opfer kennen sich oder hatten zumindest zuvor schon flüchtigen Kontakt im Bus oder einer Kneipe. Vergewaltigung in der Ehe ist nach wie vor kein Straftatbestand, sondern wird lediglich als sexuelle Nötigung verfolgt. »Wir bearbeiten diese Fälle aber genauso intensiv«, erklärt die Kommissarin mit Hinweis darauf, daß die Anzeigebereitschaft der Frauen, egal ob verheiratet oder nicht, immer mehr zunimmt. Daß das warme Sommerwetter zu einer Zunahme von Vergewaltigungen führt, hat sie nicht festgestellt: »Es gibt kein klassisches Vergewaltigungswetter.«
Heidrun Gessner findet, daß die betroffenen Frauen dazu ermutigt werden müssen, Anzeige zu erstatten, auch wenn dies große Torturen für das Opfer bedeutet. »Das Verfahren ist eklig, und die Räume hier in der Hans-Beimler-Straße sind grauselig«, gibt sie unumwunden zu. Unzumutbar sei auch, daß die Frauen den Tathergang bei der Polizei in der Regel mindestens dreimal erzählen müßten. Das erste Mal beim Erstatten der Anzeige bei der Schutzpolizei, das zweite Mal bei der Kripo-Sofortbreitschaft und das dritte Mal auf dem Kommissariat in der Hans- Beimler-Straße. »Eigentlich«, so Gessner, »muß es reichen, wenn die Frau bei der Schutzpolizei sagt, ich bin vergewaltigt worden, und der Kripo-Sofortbereitschaft nur die Informationen gibt, die zur Sicherung der Spuren und Fahndung nach dem Täter wichtig sind. Die detaillierte Vernehmung zum Tatgeschehen erfolgt erst hier bei uns.«
Auch daß die Frauen lange Wege durch die Stadt zur Untersuchung im Krankenhaus in Kauf nehmen müssen, empfindet die Kommissarin als schlimm. Sie befürwortet deshalb vehement die Forderung von Frauenorganisationen nach Einrichtung eines Krisenzentrums, wo die betroffenen Frauen unter einem Dach beraten, untersucht und vernommen werden könnten. Nach Angaben der Pressesprecherin von Frauensenatorin Bergmann (SPD), Dorothee Lüdke, krankt die Einrichtung eines solchen Projekts jedoch an der Bewilligung des Konzepts und der finanziellen Ausgestaltung.
Die Zusammenarbeit zwischen Kriminalpolizei und den Mitarbeiterinnen des Notrufs für vergewaltigte Frauen beschränkt sich nach Angaben von Heidrun Gessner darauf, daß das Notruf-Telefon in der Polizeibroschüre »Was tun, bei sexueller Gewalt?« im Index neben anderen Beratungsstellen aufgelistet ist. Die Kleinanzeigen der Notruf-Frauen in der taz, in denen vor sehr allgemein beschriebenen »Typen« gewarnt wird, die sich an bestimmten Orten an Frauen heranmachen, empfindet sie als »Panikmache und Verunsicherung«. Richtiggehend empört hat die Kriminalhauptkommissarin, daß die Notruf-Frauen einer Frau, die schon vor längerer Zeit vergewaltigt worden war, von einer Spätanzeige abgeraten hatten, weil diese angeblich nichts mehr bringen würde. »Die Frau hat den Rat aber zum Glück nicht befolgt.«
Auch in der Frage, ob vergewaltigte Frauen zur Vernehmung eine Vertrauensperson mitnehmen sollen, vertritt Gessner eine andere Position als die Notruf-Frauen. Es handele sich hier aus guten Grund um eine »Kann«-Bestimmung, verteidigt sie den entsprechenden Passus in der Strafprozeßordnung. »Frauen, die allein vernommen werden, sind meist viel offener, weil sie nicht das Gefühl haben, sich vor der Vertrauensperson vielleicht dafür schämen zu müssen, wenn sie sich nicht getraut haben, sich doll zu wehren.« Plutonia Plarre
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