: Fieber und Glocken
■ Die venezolanische Gruppe Rajatabla eröffnete Moviementos '92, das diesjährige Internationale Sommerthater auf Kampnagel
eröffnete Movimientos '92,
das diesjährige Internationale Sommertheater auf Kampnagel
Donner grollen durch die Halle, Regen prasselt nieder, ein Leichenzug bewegt sich langsam um eine Wellblechhütte herum. Nach Ansprachen der Kultursenatorin Christina Weiss und der Festivalleiter Gabriele Naumann und Dieter Jaenicke zur Eröffnung des diesjährigen Sommertheaters, begann Movimientos '92 mit einer langsamen, pathetischen Bewegung.
Gabriel García Márquez' Roman Der Oberst hat niemand, der ihm schreibt, in Szene gesetzt von Carlos Giménez mit seiner Theatergruppe Rajatabla, erzählt die Geschichte eines alten Veterans, der seit Jahren auf die Anerkennung seiner Pension wartet. Sein trotziger Widerstand gegen eine hoffnungslose Wirklichkeit verleiht ihm Würde, läßt aber auch ihn und seine Frau am Hungertuch nagen. Denn sein Stolz macht es ihm unmöglich, seinen letzten kostbaren Besitz, den Kampfhahn seines wegen politscher Handlungen erschossenen Sohns Augustin zu verkaufen. Gleichzeitig knüpfen sich an das Tier alle Hoffnungen auf Wohlstand durch einen Kampferfolg.
Giménez, eine der schillerndsten Persönlichkeiten des lateinamerikanischen Theaters, inszeniert diesen Lebenskampf sehr atmosphärisch und mit wesentlicher Konzentration auf den Konflikt der beiden Eheleute: Das Klammern des Oberst an seine beiden großen Träume - den Gewinn des Hahnenkampfes und die Anerkennung seiner Pensionsansprüche - erscheint vor den beharrlichen Versuchen seiner Frau, die Probleme praktisch zu lösen, gleichzeitig fatal und als Zeichen von menschlicher Größe. Ihre immer wiederkehrende Frage, was sie denn bis zum entscheidenden Hahnenkampf essen sollen, kann der Oberst zuletzt nur noch mit einem kraftvollen „Scheiße!“ beantworten. Hier endet der Ausschnitt mit der Gewißheit, daß sich nie etwas ändern wird, aber gleichzeitig mit einem Gefühl von Respekt für eine nur allzu verständliche Halsstarrigkeit.
Parallel zu den Gemütszuständen des Oberst läßt Giménez sich den Raum verändern. Die ursprünglich kleine Hütte verwandelt sich durch Verschieben einzelner Wandteile zwischenzeitlich ins labyrinthische, um schließlich eine weite Leere zu erzeugen, in der der stolz hungernde „Colonel“ einsam zurückbleibt. Die durchgängig braun- schwarz-weiße Farbigkeit, sowie der immer wiederkehrende Regen sorgen für eine schwere, melancholische Atmosphäre, die den Blick auf Leid und Verzweiflung zwingt.
Doch es ist eine heroische Verzweiflung, ein pathetisches Leid, das einem streckenweise doch allzu verklärt erscheint. Insbesondere die Fiebrigkeit, die Giménez durch das dämmrige Licht und den Auftritt merkwürdiger Gestalten erreicht, legt den Schleier der Magie über die Opfer eines ökonomisch- politischen Schraubstockes und assoziert das „Schicksal“ als Verursacher von menschlichen Katastrophen. Doch so paradox das klingen mag: vielleicht sind es eben die Schicksalsglocken, die im Auswegslosen den Lebensmut erhalten können. Till Briegleb
Bis Sonntag, K6, jeweils 20.30 Uhr
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