: Dunja Melcic: Der Bankrott der kritischen Intellektuellen
Nach dem Zweiten Weltkrieg bekamen Werte wie Menschenrechte, Gleichberechtigung, Toleranz, Ächtung des Rassismus und der Gewalt in der westlichen Intellektuellenszene eine bis dahin nicht gekannte Bedeutung. Nie früher hat es in der westlichen Welt so viele und massenhafte Bewegungen gegeben, die sich für verschiedene Aspekte der sozialen, politischen und geschlechtlichen Gerechtigkeit und Verunmöglichung der Kriege eingesetzt haben. Der Einsatz der Intellektuellen gegen Faschisten und Nazis vor dem Krieg hat deren Aufstieg zwar nicht stoppen können, aber die Intellektuellen, von denen viele ihr Engagement mit dem Leben bezahlen mußten, wurden zu den Leitfiguren der Nachkriegsgeschichte. Mit der Fortsetzung des engagierten Antifaschismus, mit der Schaffung einer kritischen Öffentlichkeit und beherzten Bewegung, so schien es, ließe sich das Unheil eines weiteren Weltkriegs abwehren, ließen sich Diktaturen und Repression abwenden. Auf diese oder jene Weise steckt den meisten von uns aus der Nachkriegsgeneration vieles, was damit für die Nachkriegszeit geistig mitbegründet wurde, tief in den Knochen.
Die Gegenwart des Krieges in einer Flugstunde Entfernung von Zentren Westeuropas zeigt, wie sehr man sich über die Möglichkeiten intellektuellen Einflusses auf die Politik täuschte. Die Debatten der achtziger Jahre zeigten bereits an, daß der polemische Einsatz der engagierten Intellektuellen zu einer Pose verkommen war. Die Redseligkeit im Historiker-Streit und in der Heidegger-Kontroverse steht in direktem Verhältnis zur Sprachlosigkeit im gegenwärtigen europäischen Krieg. Es bestätigt sich auf widerwärtige Art und Weise, wie recht der französische Philosoph Jean Baudrillard hatte, als er die ganze Heidegger-Debatte der „Simulation“ bezichtigte und den Streit als überflüssig denunzierte. Die risikolose Leidenschaft bei der Beschäftigung mit vergangenem Unrecht entspricht der — zuweilen ostentativen — Interesselosigkeit gegenüber dem realen, vor unseren Augen sich vollziehenden, zum Himmel schreienden Unrecht eines national-kommunistischen Regimes und seines Eroberungs- und Vertreibungskrieges.
Einzig in dem Land, das die Kategorie des engagierten Intellektuellen geboren hat, gibt es auch heute solche mit Zivilcourage, Menschen, die sich nicht scheuen, die Ursachen des Konfliktes und des Krieges zu analysieren, ihre Ansichten zu revidieren und im Namen der Gerechtigkeit in der Öffentlichkeit aufzutreten. Philosophen wie Finkielkraut, Glucksmann und Lévy waren seltener Gast der alljährlichen Kolloquien in Dubrovnik als ihre deutschen Kollegen. Während die Bevölkerung von Dubrovnik, Osijek und Sarajevo in Schutzkellern saß, besuchten sie diese Städte des Grauens und der Zerstörung, um ihre Solidarität mit den Opfern auszudrücken.
Zur Zivilcourage gehört auch, nach Belgrad zu kommen und den serbischen Akademiemitgliedern reinen Wein einzuschenken. Lévy kam von der Stippvisite in die Hölle von Sarajevo, um die protestierenden Studenten Belgrads zu unterstützen. Er wurde ausgepfiffen, angepöbelt und beschimpft von den Akademiemitgliedern und den — wie man vermutet — eingeschleusten regimetreuen Studenten. Er sagte unter anderem: „Die serbische Propaganda behauptet, daß die moslemischen Fundamentalisten in Sarajevo den Krieg führen. Das ist nicht wahr. Ich war in Algier und weiß, was Djichad ist. Die Propaganda behauptet, daß sich die serbische Armee aus Bosnien zurückgezogen habe. Auch das ist nicht wahr. Sarajevo wird bombardiert von den Soldaten und Offizieren der serbischen Armee.“
Ja, die französischen Intellektuellen und Philosophen, die kleinere Mengen dicker Bücher über Ethik, Moral, Handlung und ähnliches geschrieben haben, wurzeln zumindest in der Tradition Emile Zolas, seines „J'accuse!“ am rechten Platz und im rechten Moment, jener Tradition, über deren bedauerliches Ausbleiben in Deutschland die hiesigen „kritischen Intellektuellen“ gerne Abhandlungen schreiben. So ist sich die geschundene Bevölkerung Bosnien- Herzegowinas und Kroatiens wenigstens der symbolischen Solidarität einiger westlicher Intellektueller sicher, auch wenn damit weder der Krieg gestoppt noch ihre Länder befreit werden können.
Relativierungsstrategien
Es gibt eine Menge Intellektueller nicht nur in Deutschland, die ihre Sprach- und Interesselosigkeit mit verdrehten Argumentationsweisen zu vertuschen versuchen. Die Schienen, über die solche Wirklichkeitsverschleierung und Verdrängung des eigenen Versagens laufen, heißen: „nationalistische Gefahr“, „Separatismus“, „Bedrohung der Multikulturalität“, „die Pflicht zur Neutralität“ usf. Das Heraufbeschwören der nationalistischen Gefahr dient verschiedenen Zielen der Verdrängungsstrategie: die Implosion des Kommunismus, die für die meisten betroffenen Völker das Verlassen der totalitären sozialistischen Kasematten bedeutete, wird nicht als Akt der Freiheit und Befreiung verstanden, sondern mit der Kategorie des Nationalismus belegt und damit herabgewürdigt. Die Sorge um die Minderheiten in Osteuropa ist über Nacht zum Schlager der Intellektuellen und der politischen Elite in Westeuropa geworden.
Der greise französische Präsident hat auf einmal seine Vorliebe für die Minderheiten entdeckt — nicht bei sich zu Hause, sondern im schon lange nicht mehr existierenden Jugoslawien. Daß diese Vorliebe nicht den seit eh und je geschundenen Albanern, den vertriebenen Nicht-Serben aus Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Serbien gilt, kann man aus seinen Handlungen schließen. Seine Sorge gilt der serbischen Minderheit und geht so weit, daß ihretwegen über Grenzverschiebung spekuliert wird. In welchen Absurditäten solche Sorge um die Minderheiten endet, davon kann man sich anhand des Kroatien aufoktroyierten Minderheitengesetzes überzeugen.
Allen vernünftigen Vorschlägen — auch der serbischen Experten aus Kroatien — zum Trotz erhält die serbische Minderheit in Kroatien, dort, wo sie die Mehrheit bildet, autonome Gebiete, eine Art Ghettoisierung. Das Ganze läuft auf eine glatte Umkehrung des Minderheitenschutzes hinaus, denn, wie der Zagreber Philosophieprofessor Zarko Puhovski vor kurzem pointiert sagte, wer Minderheiten schützen will, muß die kroatische Minderheit in den serbischen Enklaven, die serbische hingegen dort, wo sie tatsächlich Minderheit ist, schützen können. Weil aber das Denken der Europäer durch die Zwangsvorstellung beherrscht war, ein souveräner kroatischer Staat werde sich im nationalistischen Wahn gegen die Serben in den Enklaven verdingen, bestanden sie auf schlechtestmöglichen Lösungen.
Die Resultate liegen jetzt auf der Hand: Bestärkt durch den Uno-Plan werden die Gebiete geschützt, in denen die aufständischen Serben ihre Willkür austoben, Gebiete, die sie mit Waffengewalt erobert und aus denen sie die nicht-serbische Bevölkerung verjagt haben. Das ist freilich nicht das Ziel des Uno-Plans für die okkupierten bzw. usurpierten kroatischen Territorien; allein das, was dieser Plan als Ziel anstrebt, kann mit den eingesetzten Mitteln nicht erreicht werden. Daraus ergeben sich zwei direkte Folgen: In den übrigen Gebieten Kroatiens finden Vergeltungen gegenüber „verdächtigen“ Serben statt. Von den Gebieten, die aus der Souveränitätsausübung Kroatiens ausgegliedert wurden, geht nun ungestört die Aggression gegen Bosnien-Herzegowina weiter. Wenn der französische Präsident laut über Grenzveränderungen in den ex- jugoslawischen Republiken sinniert — eine Spekulation, die auch in der bundesrepublikanischen linken Öffentlichkeit gerne angestellt wird —, dann setzt er sich eigentlich für die Teilung Bosnien-Herzegowinas ein. Auch die von der EG-Friedenskommission bevorzugte angebliche „Kantonisierung“ als Lösung für Bosnien-Herzegowina leistet der Teilung des Staates Vorschub und erleichtert letztendlich die Realisierung des Projektes „Großserbien“. Wenn die Mächtigen der Welt solch gefährliche Politik betreiben — aus welchen Gründen auch immer —, dann müßten sich doch Stimmen von Rang finden, um zumindest vor den absehbaren Folgen zu warnen.
Statt dessen werden in den Zentren der stabilen Staatsordnungen folgenlose Konferenzen und Symposien abgehalten über die — ach so schlimmen — Nationalismen der aufgelösten kommunistischen Imperien, bei denen die eigentliche Dynamik der entfachten Prozesse — nämlich ihre Freiheitspotentiale und Freiheitsbedrohungen — kaum je zur Sprache kommt. Dem hiesigen Publikum gefällt dabei am meisten, wenn sich ein Ureinwohner aus den östlichen Gebieten über die Demokratieunfähigkeit der dortigen Bevölkerung ausläßt.
Verkennungen der Lage bestimmen die Szene. So wie Peter Handke den Slowenen einen provinziellen Nationalismus vorwirft, weil sie die Freiheit wollten und sich als mündiges Volk verstehen, das einen eigenen Staat der freien Bürger gründen kann, beherrschen vielerlei Fehldeutungen die intellektuelle Szene und die Politik des Westens. Besonders verbreitet ist das Nachtrauern nach einem pluri-ethnischen und multikulturellen Staat „Jugoslawien“, den es so nur in der Phantasie der Außenwelt und einiger Jugo-Nostalgiker gab. In den Hauptzentren der zynischen Machtpolitik — in London und Paris — weiß man genau, daß dieser Staat ein Völkerkäfig war. Der Aspekt, der diesen Herren gefiel und noch immer gefällt, ist, daß außer den versklavten Völkern in diesem Käfig auch die Bestie des Großserbentums gebändigt schien; um welchen Preis für die anderen Völker, interessiert natürlich nicht. Nicht der Multikulturalität wegen schufen die Großmächte einen südslawischen Staat, sondern weil sie dachten, daß in ihm der großserbische Appetit nach Territorien, Macht und Ausbeutung am einfachsten zu stillen sei.
Was die Serben selber von der Multikultur halten, führen sie uns jetzt täglich auf die grausamste Art vor Augen und haben es ohnehin bereits im Laufe ihrer Geschichte in den letzten anderthalb Jahrhunderten zur Genüge bewiesen. Dem Besucher aus dem Westen werden mit Vorliebe die mittelalterlichen byzantinischen Kirchen in Kosovo vorgeführt. Daß sie dort noch stehen, ist aber als Beweis der Toleranz der Albaner und der Türken zu verstehen, die sie seit Jahrhunderten dort unbehelligt ließen. Ich glaube nicht, daß je ein Besucher aus dem Westen in Belgrad erfahren hat, wieviele Moscheen es in dieser Stadt vor der Befreiung Serbiens gab — über zweihundert — und wieviele Türken und Albaner danach in Vertreibungswellen getötet und ausgesiedelt wurden.
Wem es ernstlich um die Multikultur der pluri-ethnischen Gemeinschaft geht, darf dies nicht übersehen. Erst recht nicht, daß gegenwärtig unter großem Terror, aber systematisch und planmäßig die Vertreibung der nicht-serbischen Bevölkerung (Kroaten, Ungarn, Ukrainer) aus Serbien vor sich geht, und zwar aus Wojwodina und Srijem, das heißt aus Gebieten, die an die eroberten Territorien Ostkroatiens angrenzen. Der ernsthafte Multikulti-Fan würde auch nicht übersehen, daß alle Nachfolgestaaten des zerfallenen Jugoslawiens pluri-ethnisch sind, und zwar seit Jahrhunderten, weshalb es auch eine lange Tradition des Zusammenlebens gibt. Sogar in Serbien, das seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts von dem Bazillus des expansionistischen Größenwahnsinns befallen ist, hat sich zum Teil die ältere Tradition des Zusammenlebens erhalten können, die allerdings jetzt total vernichtet wird. In Sarajevo, der einmaligen Stadt des pluri-ethnischen Zusammenlebens, wird gerade diese multikulturelle Tradition zerstört, ohne daß man in der Welt einen Aufschrei der prominenten Multikultis gehört hätte, ohne daß man die Solidarität mit den Verteidigern von Sarajevo vernehmen kann, unter denen es, neben Kroaten und Moslems, eben auch Serben gibt.
Die serbischen Kritiker der großserbischen Politik und des Eroberungskrieges sind an den Fingern einer Hand abzuzählen. Einer von ihnen, der Schriftsteller Mirko Kovac, der vor Monaten im kroatischen Rovinj Zuflucht fand, würde, weil er den großserbischen Alptraum und seine Väter gut kennt, nie in der Manier vieler westeuropäischer Intellektueller undifferenziert von verhängnisvollen Nationalismen reden (vgl. taz vom 11.8.92). Das, was Milosevic und seine national-kommunistischen und faschistischen Schergen in Kroatien und Bosnien- Herzegowina ausführen, ist von langer Hand geistig, programmatisch und militärisch vorbereitet worden. Dazu gibt es keine Parallele in irgendwelchen anderen „Nationalismen“. Was alle nicht-serbischen Völker wollen und wofür sie kämpfen, ist Freiheit. Das verblendete serbische Volk führt Krieg um fremde Territorien und für ein Großserbien. Wer in einer solchen Situation von Faschismus da und dort spricht, sündigt an den Opfern dieses Krieges.
Hoppla, der Separatismus droht!
Noch ein anderes Verschleierungsargument erfreut sich großer Beliebtheit in den intellektuellen Zentren Europas. Es kursiert dort unter dem Namen „Separatismus“. Man kann den Zerfall Jugoslawiens ebensowenig ausgehend von der Kategorie des Separatismus erklären, wie
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man dies im Falle des Zerfalls der k.u.k. Monarchie tun könnte. Warum sollte die Entstehung der unabhängigen Staaten — Tschechoslowakei oder Ungarn — nach dem Zerfall der Monarchie legitimer sein als die Entstehung der Nachfolgestaaten des zerfallenen Jugoslawiens? Eine besondere Perversion solcher Argumentation liegt nun darin, daß Kroatien und Slowenien des Separatismus bezichtigt werden, während doch eindeutig ist, daß es das Serbien Milosevics war, das Jugoslawien zerstörte, indem es seine föderale Grundordnung abschaffte. Diejenigen, die so argumentieren, sagen im Grunde: Auch wenn die Serben durch den Verfassungsbruch aus Jugoslawien einen anderen Staat machen, aus dem föderalen einen zentralistischen und letztendlich aus Jugoslawien ein Großserbien, müssen die anderen Völker gegenüber diesem Staat loyal bleiben. Hinter diesem Argument steckt auch, daß man die Völker Jugoslawiens wohl etwas minderwertiger einschätzt als andere Völker, denn sicherlich würde niemand die Majorisierung der „richtigen“ Völker in ihren Staaten — Italiener, Ungarn, Österreicher usf. — durch ein anderes Volk hinnehmen.
Der serbische Verfassungsbruch von 1988, mit dem zwei föderale Einheiten des Bundesstaates abgeschafft wurden, war der Anfang einer Politik, an dessen Ende Jugoslawien in einen vollkommen zentralistischen Staat verwandelt werden sollte, mit einem Bundesparlament, in dem die Serben als ethnische Mehrheit auch die politische Entscheidungsmehrheit haben sollten. Allerdings zerbrach dann das diktatorische Instrument — der Bund der Kommunisten —, mit dem dieses Ziel auf politischem Wege erreicht werden sollte. Daß der Waffengang für das Erreichen dieses Zieles immer mit im Spiel war, beweisen nicht nur zahlreiche Äußerungen serbischer Intellektueller und Politiker, sondern auch die halbgeheimen militärischen Vorbereitungen, die in dem Jahrzehnt vor dem Krieg liefen. Ein serbischer Vertreter dieser Politik konnte im vergangenen Herbst mitten in Berlin zum aktuellen Krieg in Kroatien vor einem prominenten intellektuellen Publikum unangefochten sagen, daß der Krieg eben auch ein Mittel der Politik sei.
Die verlogene Pflicht zur Neutralität
Eine andere beliebte Strategie besteht darin, den Krieg im Nachbarland unter dem Aspekt eines ethnischen Konfliktes zu betrachten. Daß, wenn schon, der Kreis der angegriffenen „Ethnien“ zunimmt und die angreifende „Ethnie“ immer dieselbe ist, wird geflissentlich übersehen. Dann gibt es Konfliktparteien, deren gegenseitiges Bedrohtsein und die gegenseitige Bedrohung gleichmäßig verteilt werden. In einem solchen Konflikt darf man natürlich nicht nur für eine Seite Partei ergreifen. Eine besonders schlaue Variante dieser Interpretation bedenkt bei der Schuldverteilung, wie sehr die Serben nach dem Krieg bedroht sein könnten. Zu dieser Interpretation neigen manche kroatische Linksintellektuelle, die Jugo-Nostalgiker. Die einfache Denkformel dieser Frustrierten, die unter Entzugserscheinungen von einer Illusion leiden, lautet: Alle, die gegen Jugoslawien waren und sind, sind Nationalisten. Im Grunde bestätigen sie mit ihren Artikeln in den westlichen Medien all jene Vorurteile, die von diesen gepflegt werden. Kroatien soll, wenn es nach ihnen geht, ein Protektorat der Weltmächte werden. Welch sonderbare Blüten die Sympathien hiesiger Linken für durch den Verlust Jugoslawiens verwirrte Köpfe treiben, kann man an einem Possenspiel im Hessischen Rundfunk ablesen: Dort wollte man im Programm für ausländische Bürger der Tatsache neu entstandener Staaten so gerecht werden, daß man auf den Vorschlag der serbischen Mitarbeiter kroatische Mitarbeiterinnen engagierte, die vor aller Öffentlichkeit erklärten, sie schämten sich, Kroatinnen zu sein.
Wie weit kann man diesen miesen Begriff des „ethnischen Konflikts“ strecken, bis auch das klare Ziel: „Alle Serben in einen Staat“, also Eroberungen und Vertreibungen von Nichtserben, mit ihm gedeckt sind? Irgendwann kommt noch einer auf die Idee, auch die Kriege unter Hitler unter dem Aspekt des ethnischen Konfliktes zu deuten. Die Formel vom „ethnischen Konflikt“ ist bequem und arrogant, sie gebietet sozusagen die Neutralität, verpflichtet zum Abseitsstehen. Mit dieser Haltung sind die skandalösesten Äußerungen zum Grauen des Krieges gefallen, angefangen von dem überheblichen, zynisch-saloppen Schlußstrich, den Gräfin Dönhoff gezogen hat, nachdem sie sich ein paar Minuten mit der Situation auf dem Balkan beschäftigt hatte: „Aber wenn Sie denn ihren serbokroatischen Haß unbedingt ausleben wollen, dann sollte man sie eben lassen.“
Menschen, die ihrem Selbstverständnis nach eigenes Denkvermögen und Wissen einsetzen, damit es in der Welt der Politik gerechter zugeht; die dafür kämpfen, daß Gesellschaft und Staat die Würde des einzelnen achten, Diskriminierung und Unrecht bestraft werden; die Verantwortung für Tun und Lassen der Politiker und der Intellektuellen verlangen und jetzt zu diesem Krieg der Serben für ein Großserbien nichts von Bedeutung sagen können; nicht im Stande sind, die Seite, die sich — und das nackte Leben — verteidigt, zu erkennen, können nicht mehr erwarten, daß man sie weiterhin als intellektuelle und moralische Autoritäten anerkennt. Was war das doch für ein Zirkus, als sich alles mit Rang und Namen befleißigte, seine intellektuelle Soße zu dem Hackbraten namens „desert storm“, der fix fund fertig im Weißen Haus zubereitet wurde, zu geben! Schon damals klangen all jene großen Vokabeln von neuer Weltordnung und pax americana, vom gerechten Krieg für Freiheit statt feigem Pazifismus, gespickt mit zweifelhaften Rückblenden auf den Nazismus und den Befreiungskrieg der Alliierten, für jeden, der gleichzeitig die verhängnisvolle Entwicklung auf dem Balkan verfolgte, verdächtig hohl. Diese Vokabeln wurden am falschen Ort und zur falschen Zeit verbraucht. Wäre jene Debatte um den Krieg am Golf mehr als intellektuelle Simulation gewesen, dann hätten sich damals zumindest Kriterien ausgebildet, um den Angriffs- von dem Befreiungskrieg mit eigenem Menschenverstand zu unterscheiden, ohne auf den Nachhilfeunterricht aus den Vereinigten Staaten zu warten.
Hätte man sich in einem Krieg, den die Serben bereits vor mehr als einem Jahr vom Zaun gebrochen haben, um die klare Unterscheidung zwischen dem Aggressor und seinem Opfer bemüht, wäre den Bosniakern heute schon viel geholfen. Hätte es nur ein Quentchen mehr Solidarität der einflußreichen Wortgewaltigen dieser Welt mit der nach der Freiheit strebenden Bevölkerung, der jetzt sogar das Recht zur Selbstverteidigung entzogen wird, gegeben, könnten die krypto-rassistischen Zyniker der „noblen“ Nationen nicht so verantwortungslos ihre Politik nach dem Motto „Frieden um jeden Preis“ durchsetzen und den Gepeinigten aufzwingen.
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