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Moritz statt Neukölln

■ Karl Philipp Moritz in Rixdorf — ein germanistischer Vortrag im Saalbau Neukölln

Im Neuköllner Saalbau, im Beiprogramm zum Neuköllner Kulturpreis 1991, hält die 24jährige Germanistin Anne-Katrin Hillebrand das Vorstadtpublikum mit Lokalkultur zum Narren. Steht da, rot kostümiert mit flachen Wissenschaftlerinnenschuhen, ganz wie 'ne Alte, und vertritt mit Vehemenz die Ansicht: Neukölln war von jeher mehr als nur ein schnöder Arbeiterbezirk.

Denn schon im Jahre 1786, als Neukölln noch Ricksdorf hieß, machte der deutsche Dichter Moritz sich hier zum Affen. Stolzierte herum in gelben Hosen, blauem Frack wie der leibgewordne Werther. Der Dichter unseres »Anton Reiser« hatte — so erzählt es Tratschtante Germanistik — sich in des Bergrat Standtkes Frau Sophie Erdmuth verliebt, welche ihm in ihrem Landhaus Unterkunft gewährte, damit er seine Deutsche Prosodie verfassen könne.

Man stelle sich's einmal vor. Ricksdorf, vormals Richardsdorf: angrenzend gegen Morgen an die Köllen'sche Heide, gegen Mittag mit Britz, gegen Abend mit Mariendorff und Tempelhoff, gegen Mitternacht aber mit den Cöllenschen Aeckern und Wiesen. Kossäten und Hausleute — vielleicht sind gar die beiden Alten Adam Thurack und Jacob Tröning noch mittenmang — erneuern just auf Weisung ihres Schulzen, des Grafen Hertzberg, fluchend und gotteslästernd den Pflasterweg, der seit zwanzig Jahren gegen ihren Willen das deutsche Dorf mit dem böhmischen verbindet: den Weg gibt es noch immer, er heißt heute Richardstraße. Ein wenig abseits aber, auf der Landstraße nach Sachsen, wo die Berliner ihre Villen bauen, nimmt jenes Drama seinen Lauf, das die Geschichte der Bauern-, Weber- und Arbeiterstadt Neukölln aufs schärfste sublimieren sollte.

Doch daß man sich nicht in der Besetzung täusche. Die ehrsame Frau Standtke in ihrem Lusthäuschen spielt nur die Nebenrolle. Karl Philipp Moritz nämlich, zerrissen in der Ungewißheit, ob er wohl mehr die Standtke oder den Werther liebe, flüchtet stante pede nach Italien, wo sich erfüllt, was letztes Ziel aller Wertheriaden ist: er trifft Goethe, Autor und unerreichbare Verkörperung seines Imago. Sophie Erdmuth Standtke tritt damit ins zweite Glied zurück; findet doch die Germanistik nun erst in dieser »so folgenreichen Freundschaft zwischen Moritz und Goethe« ihr »eigentliches philologisches Interesse an der Bergrätin«.

Zwischen Moritz und Goethe nämlich entwickelt sich fernab von Ricksdorf, in Italien, ein Wechselspiel der Einbildung, in dem ein jeder bald sich anders im anderen erkennt. Moritz, der eben noch sich als der geringste Diener Goethes nach Weimar sehnte, findet sich nach einem Reitunfall in umgekehrter Rolle wieder: Wochen verbringt Goethe »bei diesem Leidenden, als Beichtvater und Vertrauter, als Finanzminister und geheimer Sekretär«. Goethe in dieser ungewohnten Rolle wiederum erkennt in Karl Philipps Wertheriaden nur die eigenen und schreibt reuevoll an seine Frau von Stein: »Moritz wird mir wie ein Spiegel vorgehalten. Denk dir meine Lage als er mitten unter Schmerzen erzählte und bekannte daß er eine Geliebte verlassen, ein nicht gemeines Verhältnis des Geistes, herzlichen Anteils pp zerrissen, ohne Abschied fortgegangen, sein bürgerlich Verhältnis aufgehoben!« Mochte in Italien Karl Philipp Moritz zum Goethe sich den Werther so vom Leib geredet haben und Goethe sich durch Moritz in seinem Werther wiederfinden, so beginnt nun endlich auch — wenn man es recht besieht — in diesen Spiegeleien das armselige Neukölln in Weimars Glanz zu strahlen. Fritz von Klingräff

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