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Honecker-Verfahren vor dem Ende

■ Nach der Leberkrebs-Diagnose droht der Prozeß gegen den früheren DDR-Staatschef endgültig zu platzen/ Wurde Moskauer Gutachten manipuliert, um Chile zur Botschaftsausweisung zu bewegen?

Berlin (taz/dpa/ap) — Nach monatelangem Tauziehen über die Auslieferung Erich Honeckers droht jetzt der Prozeß gegen den unfreiwilligen Heimkehrer endgültig zu platzen: Der frühere DDR-Staatschef ist nach Angaben seines Verteidigers Wolfgang Ziegler unheilbar an Leberkrebs erkrankt.

Die Verteidigung hat deshalb bereits am Freitag beantragt, das Hauptverfahren gegen Honecker nicht zu eröffnen und den Haftbefehl gegen den früheren DDR-Staatschef aufzuheben. Begründung: Honecker leide „an einer unheilbaren Krankheit, die entweder durch Ausschaltung der Leberfunktion direkt oder durch Metastasierung in allen Bereichen zum Tode führt“.

Doch die Berliner Justiz verhielt sich am Wochenende abwartend. Noch am Samstag wollte Justizsprecherin Uta Fölster den Eingang der Verteidigeranträge nicht bestätigen. Gestern erklärte Frau Fölster, über die Anträge werde erst entschieden, wenn — Ende August — das vom Gericht in Auftrag gegebene medizinische Gutachten vorliege. Sie habe bisher keine Hinweise auf eine lebensbedrohliche Erkrankung Honeckers.

Rechtsanwalt Ziegler hat unterdessen einen Bericht des Spiegel bestätigt, wonach bereits bei der medizinischen Untersuchung Honeckers in Moskau die Krebserkrankung festgestellt worden sei. Der Spiegel berichtet von einer Manipulation des Moskauer Gutachtens, in dem Honecker ein passabler Gesundheitszustand attestiert worden war. Erst nach diesem Gutachten hatte sich Chile dazu entschlossen, Honecker das Gastrecht in der Moskauer Botschaft aufzukündigen.

Die Krebserkrankung des 79jährigen wurde jetzt bei der ersten Routineuntersuchung Honeckers nach dessen Rückkehr im städtischen Krankenhaus Berlin-Moabit festgestellt. Bei einer Computertomographie wurde eine etwa fünf Zentimeter große Metastase im Leberbereich diagnostiziert. Im Vergleich mit Aufnahmen aus dem Jahr 1990 habe sich ergeben, daß es sich um eine bösartige Geschwulst handle.

Nach den Worten Zieglers hat sein Mandant vielleicht nur noch einige wenige Monate zu leben. Honecker habe auf das Gutachten sehr deprimiert reagiert. Nach Auffassung der Verteidigung kann Honecker in diesem Gesundheitszustand kein Strafverfahren durchstehen, das nach Ansicht des Gerichtsvorsitzenden Hansgeorg Bräutigam zwei Jahre dauern könne. Der frühere DDR-Staatschef müsse in jedem Fall sofort Haftverschonung erhalten.

Auch nach Informationen des Magazins ist es nahezu ausgeschlossen, daß Honecker der Prozeß gemacht werden kann. Sollte der frühere SED-Chef operiert werden, könnte er monatelang nicht vor Gericht erscheinen. Wenn aber die Ärzte den Tumor als unheilbar einschätzten, würde der Angeklagte schon in drei Monaten nicht mehr verhandlungsfähig sein.

Eine Reihe von Indizien deuten darauf hin, daß die bereits im Februar von einem russischen Ärzteteam diagnostizierte Krankheit vertuscht worden sei, um die Auslieferung Honeckers aus der chilenischen Botschaft in Moskau zu ermöglichen. Bereits im Februar war man zu dem jetzt in Moabit bestätigten Befund gelangt: „Herdförmiger Befall der Leber — Metastase“, zitiert der Spiegel aus dem ersten Moskauer Gutachten. Nach einer zweiten Untersuchung im März allerdings kam dasselbe Ärzteteam zu einer gegenteiligen Einschätzung: Honecker bei bester Gesundheit — von Krebs keine Rede. In Chile war daraufhin die Stimmung gegen den Botschaftsflüchtling umgeschlagen.

Auch Ziegler kritisierte das russische Ärzteteam: Es sei doch verwunderlich, daß die Mediziner vor vier Monaten die bösartige Geschwulst nicht festgestellt hätten. Nicht nur die Öffentlichkeit, sondern insbesondere die chilenische Regierung sei durch das fehlerhafte Gutachten „getäuscht“ worden.

Honeckers in Berlin lebende Tochter aus erster Ehe, Erika Wildau, hat unterdessen angedeutet, sie wolle ihren Vater im Falle einer Haftverschonung aufzunehmen: „Ich werde meinem Vater nicht die Tür vor der Nase zuschlagen“

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