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Naturwissenschaftlich oder humanistisch? Egal! Nur eins ist wichtig: Das Kind muß aufs Gymnasium!

Das Kind muß aufs Gymnasium!

Ulm (taz) — Haben nicht auch Sie, verehrte(r) LeserIn, stets wie selbstverständlich angenommen, Ihr Kind würde eines nicht allzu fernen Tages mit einer „Empfehlung für's Gymnasium“ von der Grundschule nach Hause kommen? Schließlich hatte es doch bereits als Neugeborenes — erst wenige Stunden auf der Welt — nach übereinstimmender Meinung der damals Anwesenden „etwas Aufgewecktes, verschmitzt Intelligentes“ im „verständlicherweise noch etwas stumpfen Blick“ gehabt. Und dann ist doch mittlerweile wirklich jedem klar, daß man heutzutage am „Abi“ nicht mehr vorbeikommt. Außerdem: der Sozialismus mag ja real tot sein; der Pflicht indes, unsere Kinder zu aufgeklärten, wissenden und wissen wollenden Menschen zu erziehen, entbindet uns das nicht. Und waren die vielen Gymnasien, auf denen unsere Eltern es mit uns immer wieder versuchten, nicht süße, schmuddelige Einrichtungen gewesen, in denen man sich schnell und, solange die Noten es gestatteten, heimisch und wohl fühlen durfte? Eben! Keine Frage also, das Kind muß aufs Gymnasium! Aber welches? Wenn sich der stinkfaule Filius außer für die Glotze, Bravo und Michael Jackson noch für irgend etwas anderes interessieren würde, könnte man gleich die richtige Wahl treffen. Englisch oder Französisch, naturwissenschaftlich oder humanistisch etc. Aber nichts genaues weiß man nicht. Dem blöden Kind ist doch alles wurscht. Alles? Nein, da war doch was Penetrantes mit unserem Planeten und der Verschmutzung unserer Umwelt, die angeblich beim Zigarettenrauchen beginnt. Ökologie, das isses! Gibt es denn kein Öko-Gymnasium? Die basteln bestimmt viel und sammeln auch Müll und so. Schon bald hatten wir gefunden, was wir suchten: öko-orientiert, in herrlicher Lage, hoch über der Stadt mit angeschlossener Realschule, falls die Kleinen unter Lernhemmung leiden sollten. Perfekt!

Perfekt? Der erste Eindruck am ersten Schultag: nicht schnuckelig, gigantisch eher. Ebenen, Module, Korridore, Winkel, Nischen, Gänge, Farbreize und Wanderzeichen! Dennoch finden wir den „Schaukasten, aus dem Sie ersehen können, welcher Klasse Ihr Sohn zugeteilt wurde“, nicht auf Anhieb. Da es auch sogenannte Halbebenen gibt, irren wir uns zweimal gewaltig und brauchen noch eine knappe halbe Stunde. Dann aber haben wir die erste Etappe erfolgreich abgeschlossen. Schaukasten erreicht! Wir erfahren, Pierre ist in Klasse 5d, Zimmer3.57. Gut, daß wir viel zu früh gekommen sind. Wir haben noch eine volle halbe Stunde und machen uns sogleich auf den Weg. Die erste Rast legen wir nach zwanzig Minuten auf Ebene 2.1 im Modul6 ein. Der Kleine packt 'ne Cola-Dose aus. Ich werde schlagartig rot vor Scham und sehe mich ruckartig nach allen Seiten um. „Pack das Ding weg“, flüstere ich panisch, „wenn Dich jemand mit der Dose sieht.“ Doch der Sohn meiner Frau läßt sich nicht die Bohne beeindrucken und drinkt seelenruhig leer. Da niemand in der Nähe ist, sage ich nichts, als er die Dose auf einem Schrank im Gang abstellt. Meine Gattin hat einen Seidenschal aus ihrer Handtasche gezogen und ihn sich — beduinenmäßig — um Hals und Mundpartie gewickelt, weil „ich sonst einen Zug kriege“. Die Klimaanlage sei auf „minus zehn Grad eingestellt“. Ich lache laut auf — und erschrecke zugleich über den hohlen, scheppernden Klang meiner Stimme. Wo sind wir?

Eine weitere Viertelstunde vergeht ohne größere Vorkommnisse. Zweimal glauben wir, jemanden gesehen zu haben. Und dann ist auf einmal Pierre verschwunden. Der Blick meiner verhüllten Frau verdunkelt sich. Ich kenne das. Es ist dieses gefährliche „Wo ist mein Junge“-Syndrom“. Der kleinste Funke, etwa ein falsches Wort, kann jetzt ein furchtbares Beben auslösen. Deshalb erwähne ich mit keinem Wort die schreckliche Entdeckung, die ich gerade gemacht habe: Wir sind gerade wieder an der Coca-Dose vorbeigekommen.

Doch dann, wenige Minuten später, erkennen wir mehrere Silhouetten am Ende eines langen, dunklen, Korridors. Wir rufen und winken, aber irgendetwas ist komisch. Als liefen wir auf einen Spiegel zu. Es ist kein Spiegel, sondern eine andere Kleinfamilie. Das Mädchen strahlt, die Eltern blicken uns aus leeren verzweifelten Augen hilfesuchend an. Immerhin: gemeinsam sind wir in der Lage, wenigstens zur Eingangshalle zurückzustoßen. Gerade will ich den Pedell scharf nach Zimmer 3.57 fragen, da stößt meine Gattin einen erleichterten Schrei aus: „Mein Junge!“

Doch der tut, als kennte er uns nicht, sondern zischt uns im Vorbeigehen zu: „Alles klar, kommt mit raus!“ Wir trotten treu hinter ihm her. Als keine Gefahr mehr besteht, daß er von Klassenkameraden erkannt werden könnte, spricht er wieder zu uns. „Ein Kinderspiel war das“, erfahren wir, „habe alles aufgeschrieben, was ich brauche.“ Auch der Lehrer sei okay, und die Mitschüler scheinen ebenfalls „ganz in Ordnung“ zu sein.

Der Stolz beschleunigt meinen Puls nicht unerheblich. Ganz klar: das Kind muß aufs Gymnasium! Philippe André

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