: Trittbrettfahrer der Trauer
■ Rolf Schneiders Essay über den Untergang der DDR
Immer wieder erweckt Rolf Schneider den Eindruck, als wüßte er über alles Bescheid. Immer wieder steht der Leser dem Schriftsteller wie ein Dummerjan gegenüber. So kann wahrlich keine rechte Liebe zwischen Leser und Literat aufkommen.
Was Rolf Schneider von seinem Wissen preisgibt, bestätigt nur, daß er viel gesehen, noch mehr gehört, das meiste aber gelesen hat. Was er in seinem Gedächtnis gesammelt hat, gibt er gern in feuilletonistischen und essayistischen Texten wieder. Sie schmeicheln ihm manchmal offenbar dermaßen, daß er sich nicht scheut und schämt, sich selbst zu zitieren. Mit wahrer Wonne läßt er noch einmal seine Worte „vom Künstler in der DDR“ vom Stapel. Wenn das kein exhibitionistischer Eifer ist!
Daß eine Wiederholung ein Wort nicht wahrer macht, ist eine Binsenweisheit. Daß der Selbstzitator in üblicher Unbekümmertheit aber auch andere Autoren zitiert, ohne ihre Autorenschaft anzuzeigen, macht einmal mehr klar, welch ein guter und geschickter Futterverwerter der essayistische Feuilletonist Schneider ist. In seinem Buch „Volk ohne Trauer. Notizen nach dem Untergang der DDR“ sagt er über den Künstler des verschwundenen Landes: „Er wurde Funktion in einem System der repressiven Toleranz...“ So gut sich das anhört: System der repressiven Toleranz, das stammt nicht aus Schneiders Schreibstube. Den Termini vom System der repressiven Toleranz brachte der deutsch- amerikanische Philosoph Herbert Marcuse unter die Leute und damit '68 viele Tausend Intellektuelle auf Trab. Gegen das System der repressiven Toleranz, das für Marcuse das kapitalistische war. Dabei sollte es auch Schneider belassen, wenn er die dienenden, duldenden DDR-Künstler deklassieren will und muß, zu denen auch er gehörte, da auch er sich nicht konsequent vom Land distanzierte. Um zu differenzieren, müßte der Schriftsteller mehr tun, als sich selbst zu zitieren, als Gehörtes, Gesehenes, Gelesenes zu kolportieren, um schließlich doch nur auf der Stufe des Gehörten, Gesehenen, Gelesenen anzukommen. Hätte Schneider mehr zu sagen, also etwas, was weit über Gehörtes, Gesehenes, Gelesenes hinausgeht, er hätte nicht an das Buch der Mitscherlichs — „Die Unfähigkeit zu trauern“ — andocken müssen, um schließlich bei dem Essay „Volk ohne Trauer“ anzukommen. Soviel Schneider gehört, gesehen, gelesen hat, kaum etwas hat er von der Trauer im Volk gespürt. Vielleicht liegt das daran, daß er, wie das „Volk“, nicht fähig ist, Trauer zu zeigen. Die Trauer ist da, aber sie hat keine Sprache und keine Sprecher. Das ist die Schande in Deutschland. Die stinkt nicht gen Himmel. Davor ist der Duft der Mediensprays! Bernd Heimberger
Rolf Schneider: „Volk ohne Trauer“. Steidl Verlag 1992, 233Seiten, 18DM.
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