Predigt aus dem Toten Winkel

■ Günter Kunert las für Radio Bremen aus seinem neuesten Buch: in der Bar des Hotel „Maritim“

Es war zum Glück keine Fernsehübertragung: Der Dichter Günter Kunert mit seinem gewitzigt- traurigen Seehundgesicht im postmodernen Ambiente der Bar des Luxushotels „Maritim“, mit einer Lesung aus seinem neuesten und nachdenklichen Buch „Im toten Winkel“, zwischen sekt- und orangensaftschlürfenden Sonntagsfrühaufstehern, die brav auf den rosa-schwarzen Samtsesseln hockten. Es handelte sich um eine Lesung für Radio Bremen 2 kulturell, dessen aushäusige Literatursendung jetzt nicht mehr „Literatur umzu“ heißt, sondern „Literatur im Maritim“ - und so wird bis auf ehrfürchtiges Hüsteln und leises Gläserklirren den HörerInnen des Mittschnitts (Montag vormittag 11.30 Uhr) so einiges an „umzu“ erspart bleiben.

Bleibt die ruhige Stimme von Günter Kunert, die leicht und mit viel Understatement auch über die Tiefgründe der Texte trägt. Bleiben die Texte selbst:„Im toten Winkel“, das ist eine Sammlung von kurzen Prosastücken, in denen es um verschüttete Wahrnehmung und Erkenntnisse geht. Günter Kunert erklärt das genau in dem Text, der dem Buch seinen Titel geben hat: So, wie einem Autofahrer die Straße im Rückspiegel frei zu sein scheint, bis aus dem toten Winkel unvermutet ein überholender Wagen auftaucht, so ist es eben auch sonst im Leben. (Vergleich Mathias Claudius: „Siehst du den Mond dort stehen, er ist nur halb zu sehen, und ist doch rund und schön“). Ein Gleichnis also.

Nicht immer ist das, was aus einem toten Winkel ins Bewußtsein tritt, für die Protagonisten angenehm. Der Griechenmythe Sisyphos zum Beispiel glaubt sich bei Kunert vom Fluch befreit, als sein ewig vom Berggipfel herunterrollender Fels überraschenderweise einfach oben liegenbleibt. Irrtum. Er weiß außer der Felsenrollerei nichts anzufangen, kehrt auf den Berg zurück und gibt dem Brocken einen Schubs. Da rollt er wieder abwärts, und wir können uns, wie einstmals schon Albert Camus, Sisyphos als einen „glücklichen Menschen vorstellen“.

Im Text „Astronom sein wollen“ kommt ein „Ich“ in Anbetracht des Sternenhimmels zu dem Pascal'schen Schluß, daß der Mensch nur ein Schilfrohr im Wind, nein, ein Molekül im Universum ist — „die Betrachtung der Planeten ist tröstlich“.

Etwas von erbaulichen Predigttexten hat die Prosa von Günter Kunert schon, trotz ihrer knappen Sprache, mit der er gekonnt und beindruckend alltäglich-absurde Situationen umreißt. Es sind die Erläuterungen, die mitgelieferten und naheliegenden Interpretationen, die zu deutlich Kunerts Mißtrauen in die Fähigkeit zur „richtigen“ Erkenntnis bei seinen LeserInnen zeigen.

Da gibt es einen geheimnisvollen „Gesandten“, der einem „Ich“ über Jahre hinweg immer wieder an den verschiedensten Orten begegnet und eine nahe Vertrautheit voraussetzt, ohne daß das „Ich“ auch nur den Namen des so seltsam an seinem Leben Teilnehmenden kennt. Und er will ihn auch gar nicht kennen - um sich nicht die Illusion einer Beziehung zu verderben, um nicht zu erfahren, daß es sich nicht um einen „Gesandten Gottes“ handelt, um nicht...

Oder eine Schiffspassage, auf der zwei einander unbekannte Männer Wange an Wange auf den Bootsplanken liegen müssen, in ungewohnter, unheimlicher Nähe. Irritiert verlassen die Männer das Boot, und dann folgen die Erklärungen.

Endlich, am Schluß der Lesung, kommt die Erzählung einer Begegnung, die Kunert auch ohne reflektierende Beigaben für stark genug hält: ein Sohn besucht seinen alten Vater im Heim, schiebt ihn im Rollstuhl herum und plaudert über die lapidaren Dinge des Lebens, bis er beim Abschiedskuß feststellt, daß es gar nicht sein Vater, sondern irgendein anderer Alter gewesen war. Das sitzt. Da kommt Kunerts ganze Stärke zum Vorschein. Davon bleibt ein Bild übrig, das in keinem „toten Winkel“ mehr verschwinden wird.

Cornelia Kurth

Günter Kunert: „Im toten Winkel“ Hanser Verlag, 36 DM