DEBATTE: Ein entwirrbarer Zusammenhang
■ Einige Anmerkungen zu einem ach so komplizierten Sachverhalt
„Da blickt ja keiner durch“, „da sind die einen doch auch nicht besser als die andern“, „da sind doch alle gleichermaßen schuld“ — Redewendungen, die man immer wieder hört, wenn es um den Krieg auf dem Balkan geht. Handelt es sich wirklich um einen unentwirrbaren Konflikt zwischen zwei Völkern, die ein jahrhundertealter Antagonismus trennt und die nur unter einem strengen — osmanischen oder titoistischen — Regime zusammenleben können? Die gängigen Denkfiguren provozierten Paul Garde, Slawist und Autor eines jüngst in Paris erschienenen Buches über den Krieg auf dem Balkan, zum folgenden Beitrag:
Es stimmt nicht, daß ein jahrhundertealter und deshalb letztlich unverständlicher Antagonismus Serben und Kroaten trennt. Diese beiden Völker, die kulturell gewiß sehr verschieden sind, haben bis zum Beginn des 20.Jahrhunderts friedlich nebeneinander gelebt. Die erste wirkliche Äußerung von Feindseligkeit geht auf das Jahr 1902 zurück. Damals begannen die Serben, die sich des Wiedererstarkens ihres Volkes sicher waren, die Existenz der kroatischen Nation selbst zu leugnen. Ein serbischer Journalist aus Zagreb, Nikola Stojanovic, publizierte unter dem provokanten Titel „Bis zu eurer oder unserer Vernichtung“ einen Artikel gegen die Kroaten, der in der Stadt antiserbische Unruhen hervorrief. Doch führte dies bis zum Ersten Weltkrieg zu keinem Bruch der „serbisch-kroatischen Koalition“ im Sabor.
Ein Abgrund tat sich erst auf, als diese beiden Völker 1918 zu ihrem gemeinsamen Leid in einem gemeinsamen Staat vereinigt wurden, dem Königreich von Jugoslawien, wo eines der beiden, die Serben, absolut dominierte und das andere für eine quantité négligeable gehalten wurde. Alles andere ergab sich daraus. Die Ursachen der Feindschaft sind also neueren Datums und jeder Analyse leicht zugänglich.
Wer von einem unentwirrbaren Zusammenhang spricht, gibt kein Urteil über den jugoslawischen Konflikt ab, sondern verrät nur seine eigene Denkfaulheit. Die Information über die historischen Ursachen, über die verschiedenen Entwicklungen, über die Motive der Handelnden und über die präzise Verantwortung, die diesem oder jenem in dieser oder jener Etappe zufällt, ist jedermann leicht zugänglich — man muß sich bloß die Mühe machen, sie zu suchen. Die Weigerung, die Motivlage des andern zu verstehen, ist eine Form rassistischer Verachtung.
Wenn man sagt, die beiden Völker seien unentwirrbar miteinander vermischt, liegt man zweifellos richtig. Das ist evident. Doch ist dies ein Grund mehr, diejenigen zu verurteilen, die (mit den inzwischen hinlänglich bekannten Mitteln) die „ethnische Bereinigung“ in die Wege geleitet haben: die Serben.
Der erstaunlichste Einwand ist folgender: „Heute mögen die Serben Aggressoren seien, doch morgen schon könnten es die Kroaten sein.“ Was würde man von einem Gericht halten, das ein gewöhnliches Verbrechen nach dieser Logik angehen würde? Morgen mögen die Kroaten, die Franzosen, die Iraker oder die Chinesen die Aggressoren sein. Doch heute sind es die Serben. Die offenkundige, gründlich erwiesene Aggression von heute mit einer künftigen, hypothetischen, zweckdienlich eingebildeten zu entschuldigen, bedeutet, den Begriff des „präventiven Krieges“ zu rechtfertigen, letztlich also jeden möglichen Krieg a priori zu befürworten. Das heißt, mit einem Schlag das ganze, in Jahrhunderten mühsam geschaffene Völkerrecht über Bord zu werfen.
Angesichts der Verbrechen gegen die Menschheit, die zur Zeit in Bosnien begangen werden, ist auch die Untätigkeit aller westlichen Länder verbrecherisch. Diese Haltung beruht auf einem Unwillen, sich zu informieren, auf einer Weigerung, begreifen zu wollen, auf einer Absage an jede Logik. Paul Garde
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