Das Publikum ist ganz und gar verzoukt

■ Die letzte Woche der Heimatklänge 1992: »Kassav« spielt im Zelt des Tempodrom — nicht nur des Regens wegen

Zum kleinen fünfjährigen Jubiläum gönnten sich die Heimatklang-Fabrikanten eine Band, die sie eigentlich gar nicht bezahlen können. Kassav, in der französischsprachigen Welt inzwischen zu mittleren Superstars aufgestiegen, wollten sich totlachen, als sie vom maximalen Gagenangebot des Berliner Festivals hörten. Nach einer Bedenkzeit von einigen Tagen faxte die Managerin dann aber doch das »O.K.« ins örtliche Büro des Plattenlabels Piranha, in dem Festivalleiter Borkowsky Akbar die Fäden zusammenhält. Für ihn ist die Teilnahme Kassavs am neunwöchigen Freilandversuch in Sachen exotische Klänge eine Bestätigung der Popularität des Festivals. Sollte sich die frenetische Begeisterung des Heimatklang-Publikums inzwischen bis nach Guadeloupe herumgesprochen haben?

Am Mittwoch nachmittag jedenfalls traf dann tatsächlich der vierzigköpfige Clan per Flugzeug aus Paris ein. Kassav, eine Band, die hier weitgehend unbekannt ist, die im Pariser »Zenith« aber in einer Woche 60.000 Zuschauer versorgt, wurde 1979 gegründet. 1983 hatte sie mit »Zouk- La-Se Sel Medikamen Nou Ni« ihren ersten Hit, 1987 handelte sie einen Plattendeal mit CBS aus. Da Kassav- Mitbegründer Jacob Desvarieux und einige seiner Mitmusiker nebenbei Soloalben veröffentlichen, gibt es inzwischen eine unübersichtliche Menge von Vinylerzeugnissen aus dem Hause Kassav. In Deutschland aber sind die Platten kaum zu finden, bei Sony/CBS in Köln weiß man angeblich nichts von einer Band namens Kassav. Im Computer der großen Plattenfirmen scheint die Datei »Weltmusik« immer noch unter G wie Gipsy Kings zu beginnen — und auch zu enden.

Im Tempodrom beweisen Kassav schon nach kurzer Zeit, warum sie trotzdem so populär sind: sie machen Popmusik. Das Erfolgsrezept des Gründers und Gitarristen Desvarieux ist eigentlich ganz simpel: man nehme zwei Teile Karibik aus der Heimat Martinique, einen Teil Roots aus Afrika (süßliche Gitarrenriffs à la King Sunny Adé) und jede Menge Popgemüse, das in Paris inzwischen auf jedem Parkplatz wuchert. Fertig ist der Zouk. Nun ist Chefkoch Desvarieux aber kein Anhänger des Fast foods, sondern Verfechter der gesunden Ernährung. Wir werden im Tempodrom also nicht schnell mal eben mit einem Popbrei abgefüttert und gehen dann hungrig nach Hause. Kassav bringen das Kunststück fertig, nicht nur die zahlreich erschienenen Französischsprecher aus der Reserve in die Position der Armschwenker zu versetzen. Kassavs Show ist eine ziemlich perfekte Mischung aus Entertainment, Bühnenshow und natürlich Musik.

Und was das schönste neben den Tänzerinnen ist: Kassav lassen einen die intellektuellen Einwände und Zweifel vergessen, die einem immer wieder das ganz einfache Vergnügen am Vergnügen vermiesen. Allein fünf Bläser schnauben herum und kreieren eine Funky-Karibik- Trauminsel. Claude Vamur und Cesar Durcin sorgen für heftige, knallige Tanzschläge auf Drums und Percussion, und auch Sänger beschäftigt man gleich in dreifacher Ausfertigung. Patrick St. Eloi beweist dann nach der Pause mit einem Solo in Aron-Neville-Manier, daß Kassav auch richtig schön verschmiert romantisch sein können.

Falls die Musik nach der Pause immer noch nicht in die Knochen gefahren ist und den kleinen Beinbewegungsmotor gestartet hat, bleibt immer noch der visuelle Genuß. Besagte Tänzerinnen scheinen einen ganzen Kleiderschrank aus Paris mitgebracht zu haben. Vor allem Kleidungsstücke, die nicht unbedingt für einen Spaziergang in winterlicher Schneelandschaft geeignet wären, scheinen sie zu mögen (recht knappe Büstenhalter mit Spiegelchen drauf, sehr kurze Shorts, Strümpfe, die dem Oberschenkel wenig Schutz gegen Kälte geben würden, und nach dem sechsten oder x-ten Umkleiden adrette, in Streifen geschnittene Leopardenröckchen). Ob der Umzug ins Zelt wegen des Regens stattfand oder wegen drohender Blasenentzündung Marie-José Gibons und Cathérine Laupas, bleibt ein Geheimnis der Veranstalter. Man will jedenfalls bis zum Sonntag im Zelt bleiben.

Eine tanzwütigere Geburtstagspartyband als Kassav hätten sich die Heimatklanggänger und -macher wohl kaum aussuchen können. Bleibt zum Abschluß der Saison nur noch die Hoffnung, daß die Heimatklänge zwar immer populärer, aber nicht immer noch voller werden. In diesem Jahr verdarb die drängende Enge und die Schlange vorm Bier und Klo doch ein wenig den Spaß am schönsten Sommerfestival Berlins. Mein Vorschlag: Die Regierung bleibt in Bonn, das Tempodrom erhält den gesamten Spreebogen, und Bundestagssitzungen in Berlin finden im Zelt statt. Andreas Becker

Kassav noch bis Sonntag im Tempodrom, täglich um 21.30, Sonntag Werkstattkonzert um 16 Uhr.