: Picknick und dicke Lippen
■ In der Wuhlheide beginnt morgen ein »Bizarre«-Festival. Aber es heißt nur so. Im Tacheles heißt die Gegenveranstaltung »No Bizarre«. Der Name paßt
Die Frage, die es zu behandeln gilt, ist: Warum heißt das »Bizarre«-Festival so, wie es heißt? Der Veranstaltungsort hat wenig Bizarres, wenn man einmal von der Pionier-Eisenbahn absieht, die sich tutend durch die Wuhlheide schiebt. Auch nicht sonderlich ungewöhnlich ist es, daß sich im Sommer Tausende von Menschen unter freiem Himmel treffen, um Live- Musik zu hören. Das hat sich zu einem recht verbreiteten Vergnügen entwickelt. Und daß zu diesem Zwecke meist zu viele Bands versammelt werden, als daß ein normaler Mensch das ohne größere Schäden überstehen könnte, kommt auch des öfteren vor. Weit und breit nichts Bizarres, vielleicht sind es ja die Bands?
Aus Berlin dürfen neben all den großen Namen spielen: Die Art, Punkrocker vom alten Schlag, 18th Dye, Noise-Rocker vom neueren Schlag, The Slags, Rockerinnen von der schlampigen Art, Strangemen, Hüsker-Dü-Epigonen mit offizieller Absegnung durch Grant Hart, und Element of Crime, inzwischen zum Deutschtum gelangte Altherrenrocker. Bizarre-Faktor bei allen gegen Null.
Erstmals fündig wird man bei den Inspiral Carpets. Die Herren aus Manchester spielen immer noch Rave — ja, das gibt's noch — und haben neben vier pilzköpfigen Topffrisuren eine Glatze im Angebot — Bizarre-Faktor immerhin 1. Oder Helmet aus New York. Die sind Rocker geworden, um nicht als Bankangestellte zu enden, und behaupten, Metal für denkende Menschen zu spielen. Das gibt einige Bonuspunkte, sagen wir mal Faktor 3.
Dann Rausch. Die sind nur dreist, aber nicht bizarr. Kölsche Dicklippen mit einem unübersehbaren Hang zum Größenwahn. 0-Faktor in jeder Beziehung. Und möchte jemand an den Lemonheads etwas Bizarres entdecken? Immerhin, etwas schrullig ist der gute Evan Dando ja schon, spielt immer noch mit weit aufgerissenen Augen seinen hochcharmanten Indie-Pop mit Teenie-Appeal. Gibt wegen gnadenloser altmodischer Zeitlosigkeit Faktor 2. L7 sind eine Frauenband, die eine der besten Metal-Platten des Jahres machten. Bizarr ist einzig, daß es im Publikum immer noch Idioten gibt, die »Ausziehen« brüllen — keine Wertung. An New Model Army ist immerhin wertbar, daß sie nach all den Jahren noch immer glauben, daß ein Song die Welt verändern könnte. Für den unerschütterlichen Glauben an das Gute in Mensch und Musik und die ebenso legendäre wie demonstrative Zahnlücke von Sänger Justin Sullivan geben wir eine 3,5.
Doch endlich, endlich wird's dann doch noch richtig bizarr: Glenn Danzig (Zungenschnalzer!), der Mann, der obenrum so unglaublich viel breiter ist als untenrum. Endlich mal ein Mensch, der sicherlich nicht mehr alle Hühner an der richtigen Stelle sitzen hat. Laßt uns nicht weiter reden über das Satanismus- Geschwafel und die damit verbundene Zensur-Diskussion in den USA, das wirklich Witzige ist ja, daß der inzwischen schon recht schüttere Glenn selbst dran glaubt. Man kann sich richtig vorstellen, wie er sich sein liebstes, natürlich total schwarzes Muscle-Shirt rausholt, seine Band um einen Tisch versammelt und dann vor lauter Aufregung den Meßweinbecher mit den Pranken zerquetscht. Bizarre-Faktor sicherlich 12, aber Abzüge für Dämlichkeit (1) und Bodybuilding (3).
Das ergibt bei elf in die Wertung kommenden Bands gerade mal einen durchschnittlichen Bizarre-Faktor von 1,68. Eindeutig zuwenig, um den Namen des Festivals noch aufrechtzuerhalten. Aber auch egal: 12 gute bis sehr gute Bands zum Preis von dreien und ein Tag (hoffentlich) voller Sonne, Spaß und Musik sind ja auch was. Der Picknick-Charakter solcher Veranstaltungen ist von vornherein garantiert.
Keine Fragen nach seiner Existenzberechtigung wirft hingegen der Name »No Bizarre«-Festival auf. Er trifft ohne Zweifel auf den Abend im Tacheles zu, der als billige Gegenveranstaltung zum Mammutprogramm in der Wuhlheide konzipiert ist. Das Festival bietet am gleichen Tag für schlappe 15 Mark immerhin auch vier Bands. Und nicht die schlechtesten: Pure Laine kommen aus Graz, und wenn man der in Wien ansässigen Kronenzeitung glauben darf, »die einzige nennenswerte Rockband« dort. Pure Laine spielen sehr zurückgenommenen, sanft dümpelnden Rock, der ab und an in der eigenen Balladenhaftigkeit versinkt. Almost Human aus Wuppertal sind offensichtlicher Gefühligkeit auch nicht abgeneigt, dabei jedoch einen kurzen Zahn schneller und mit versteckten Rave-Ansätzen. Das Programm komplettieren die Berliner Jam-Kopie Die Tanzenden Herzen und die Poor Little Critters, eine Nachfolgeband der seligen Sixties-Ikonen Beatitudes. Thomas Winkler
»Bizarre«-Festival morgen ab 12 Uhr in der Freilichtbühne in der Wuhlheide, Einlaß ab 10 Uhr — »No Bizarre«-Festival um 21 Uhr im Tacheles
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