: György Dalos: Von der Schwierigkeit, Farbe zu bekennen
In den euphorischen Anfangsmonaten des Ersten Weltkrieges, als die Züge mit den Verwundeten noch nicht in Budapest eingetroffen waren und die amtlichen Verlustziffern relativ niedrig lagen, gab es keine gute Gesellschaft, in der die Ereignisse an der Front nicht das Gesprächsthema Nr.1 gewesen wären. Alle spielten den Wohlinformierten, die Zahl der privaten Kriegsberichterstatter und -analytiker übertraf bei weitem die der offiziellen, wobei die einzige Quelle des Normalbürgers die der Militärzensur unterliegenden Zeitungen bildeten. Man erzählte einander anhand von Zeitungsmeldungen lustige Geschichten darüber, wie unsere heldenhaften Soldaten da unten „den Serben“ verprügeln, wie sie da oben „den Russen“ schlagen, und fast jeder war fest davon überzeugt, daß das Ganze bis Weihnachten erledigt sein werde.
Der Schriftsteller Lajos Nagy hatte genug von diesem Hinterlandklatsch und stellte eine Tafel auf seinen Stammtisch im Café „Bucsinszky“: „Hier wird nicht über den Krieg gesprochen“. Er war kein Pazifist, er haßte einfach den Krieg und die Lüge.
Manchmal sehne ich mich nach einem solchen Stammtisch und weiß gleichzeitig, daß es ihn bereits damals kaum gab und heute noch weniger gibt. Der Krieg nebenan drängt in unseren Alltag herein. Intellektuelle werden ständig aufgefordert, Position zu beziehen, Farbe zu bekennen. Man zeigt uns Fotos von zerfetzten Leichen und zerschossenen Beerdigungen und fragt: Was sagt ihr dazu?
Ich sage kaum etwas, ich habe eher reflexartige, aggressive Wünsche. So möchte ich, daß jemand den serbischen Kriegshetzer Seselj aus dem Verkehr zieht, die kleinjugoslawische Luftwaffe kampfunfähig macht, und daß auf jeden, der auf wehrlose Säuglinge, Frauen und Alte das Feuer eröffnet, treffsicher zurückgeschossen wird. Allerdings habe ich dabei zwei Bedenken.
Erstens: Obwohl die serbische Regierung (anders als 1914) in diesem bewaffneten Konflikt zweifellos als Aggressor und Hauptverantwortlicher bezeichnet werden muß, wäre es leichtfertig zu meinen: Wer Serbien stoppt, stoppt den Krieg. Der Sprengstoff ist weder serbisch noch bosnisch, sondern historisch. Alle Völker dieser Region leben mit der Erfahrung, um Leben und Tod ringen zu müssen, zumal sie von machthungrigen Intellektuellen, ehemaligen Tito-Generälen und Parteibonzen auf beiden Seiten dazu direkt angeheizt werden. Solange diese Psychose des ewig beleidigten und sprungbereiten Nationalismus nicht überwunden wird, kann selbst der mieseste Vorwand ausreichen, das Elend durch noch größeres Elend bewältigen zu wollen. Es mehren sich die Zeichen dafür, daß der Desintegrationsprozeß in Südosteuropa erst in seinen Anfängen steckt.
Zweitens: Ich habe keine Lust, durch meine Stellungnahme den heutigen europäischen Politikern irgendein moralisches Mandat zu erteilen. Der Westen hat mehrere Chancen verpaßt, diesen Krieg zu verhindern. Lange vor Beginn des jugoslawischen Zerfalls verfügte die EG über genügend Druckmittel, um die damals noch aktuelle konföderative Konfliktlösung durchzusetzen. Aber auch später hätte die rechtzeitige Anerkennung der neuen südslawischen Staaten viel Blutvergießen verhindern können. Wirtschaftsblockaden und Waffenembargos habe ich nie für effektiv gehalten.
Es ist nicht ganz auszuschließen, daß Europa und die USA durch Militäraktionen diesem konkreten Krieg zunächst Einhalt gebieten können. Was ihnen jedoch fehlt, ist ein durchdachter Friedensplan, eine zusammenhängende Vorstellung davon, wie das postkommunistische Chaos von Tiraspol bis Hoyerswerda unter Kontrolle gebracht werden sollte. Diese Phantasielosigkeit des Westens ist übrigens die Fortsetzung sowohl seines früheren Unvermögens, eine klare Politik gegenüber den ehemaligen Diktaturen des Ostblocks fortzusetzen, als auch seiner fortwährenden Unfähigkeit, sich mit den Problemen der Dritten Welt zu beschäftigen.
Meine Skepsis zwingt mich in die Rolle eines nicht neutralen, jedoch machtlosen Beobachters. Am meisten verstehe ich jenen jungen bosnischen Heckenschützen, den ich auf dem Bildschirm sah. Er gab aus einem Fenster in Sarajewo blindlings Schüsse auf den vermeintlichen Gegner ab, lief panisch davon und brach dann in Schluchzen aus. Vielleicht begriff er plötzlich etwas von der Hoffnungs- und Sinnlosigkeit jedes Schusses in diesem Krieg, in dem niemand siegen wird, es sei denn der zunehmende Irrationalismus in der Welt, der sich langsam in unser Denken hereinstiehlt.
Der nächste Text unserer Reihe „Europa im Krieg“ erscheint am Dienstag.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen