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Die Wirklichkeit als Werbeclip

Der Mountainbike-Weltcup präsentiert sich als hochprozentiges Destillat der Freizeitgesellschaft/ Das gute, alte Stahlroß ist zum Untergang verurteilt/ Die Biker sind der wahre Hammer  ■ Aus Kirchzarten Ulrich Fuchs

Freiburg, tief im Südwesten, selbsternannte „Hauptstadt der Ökologie“ mit einem konstanten Potential von 20 Prozent Grünwählern — vor allem aber: Radler-Hochburg. 30 Pedalminuten weiter: das 8.500 Seelen zählende Kirchzarten, tourismus- gestylte Schwarzwald-Idylle in Reinkultur und Austragungsort des achten von insgesamt neun Mountainbike-Weltcup-Rennen.

Rund 130 Männer und 60 Frauen gehen in getrennten Läufen an den Start. Für die Hälfte der 400 gemeldeten Teilnehmer aus 16 Nationen kam das Aus schon nach der Qualifikation. Mountainbiking boomt — auch als Leistungssport. „Etwa 60 Starter“, schätzt Erhard Eckmann vom Kirchzartener Organisationskomitee, leben allein vom Bergradeln. Darunter sind mittlerweile auch immer mehr ehemals gestandene Straßenfahrer wie der Kirchzartener Lokalmatador Hartmut Bölts, der es auf dem Asphalt immerhin zu mehreren Deutschen Meistertiteln, Vizeweltmeisterschaft sowie Olympiateilnahme brachte. „Weniger Terminstreß“ als im „krankenden Straßensport“ war für Bölts das Hauptargument, zu den Mountainbikern zu wechseln, wo „der Zirkus auch noch kleiner und familiärer ist“. Zumal laut Bölts, „wenn man gut ist“, nicht nur der flotte Straßenflitzer, sondern auch der buntgescheckte Bergesel seinen Lenker ernähren kann.

Den dicken Reifen vorn hatte in Kirchzarten nach sechs Runden auf dem acht Kilometer langen Kurs mit einem Höhenunterschied von 290 Metern der Österreicher Gerhard Zadrobilek. Die endgültige Entscheidung fällt beim abschließenden Lauf in Vail, der US-amerikanischen Hauptstadt des High-Tech-Gefährts, in der insgesamt vier der zehn Rennen gefahren werden. Bei den Frauen waren die drei in der Gesamtwertung souverän führenden Amerikanerinnen gar nicht erst angereist. Die europäische Spitze durfte die Siegprämie unter sich ausfahren, und Silvia Fürst und Chantal Daucourt nutzten mit Platz eins und zwei die Gunst der Stunde, um die Ehre des Schweizer Bergradlertums zu retten. „Hart für die Biker. Und sanft zur Natur“ — mit diesem Renn- Motto hatten die Kirchzartener Veranstalter gleich von sich aus die Offensive im seit längerem schwelenden Konflikt zwischen Bikomanen und Umweltschützern ergriffen. Für Hartmut Bölts, der sich in den Wäldern auskennt, ein absurder Streit: „Höchstens zehn Prozent der Mountainbike-Besitzer“ tauchen dort nach seiner Schätzung jemals auf, „und vielleicht ein Prozent“ zählt er zu den „schwarzen Schafen“.

„Das Mountainbike hat sich als Alltagsrad etabliert“, weiß der Profi, der von einem Importeur der Luxusstücke gesponsert wird und deshalb an diesem Boom auch nichts Befremdliches findet. „Jeder nach seiner Fa¿on“, hält es Bölts diesbezüglich mit dem alten Fritz. Und das Kirchzartener Publikum wirkt wie angetreten, um diesen Leitsatz in die Praxis umzusetzen.

Kein Mountainbike-Hersteller hätte eine trefflichere Promotion- Veranstaltung inszenieren können. Mitten in der schönsten Natur braute sich für einen Rennachmittag lang ein hyper-hochprozentiges Destillat der ökologischen Freizeitgesellschaft zusammen. Die Wirklichkeit als Werbeclip, das Fahrrad als klassenübergreifender Ausdruck glücklicher Verhältnisse. Von den 15.000 Zuschauern waren, grob über den Lenker gepeilt, 70Prozent mit dem Radel da. Die deutliche Mehrzahl derer wiederum mit dem dickbeinigen Drahtesel, dessen gewaltiger Siegeszug drauf und dran ist, seinem Vorläufer, dem ordinären Stahlroß, einen Platz auf der Liste bedrohter Tierarten zu bescheren. Hierzulande jedenfalls, wo in den vergangenen zwei Jahren rund zwei Millionen Exemplare des sündhaft teuren, hochgezüchteten Exemplars verdealt wurden.

Das Outfit des Publikums dem angemessen: wohin das Auge blickt, provozierend unästhetisch eng verpackte primäre männliche Geschlechtsmerkmale vor krankem Schwarzwald. Neon-scheckige Oberteile gegen tiefen Wiesengrund. Lässig den kurzen Ruhm der Verwechslung suchende Rennpisten- Radler und das Objekt der Begierde bergan schiebende bauchansätzige Schnauzbärte. Bankjobverdächtige Shimano-Fetischisten und windschnittig bebrillte Szene-Mädels. Ultra-bikomodisch verkleidete Kids und vereinzelt auch die Renaissance der bunten Freakhose — auf fahrbaren 2.000-Mark-Untersätzen. Rudel- und paarweise, im Familienverband und solo.

„Chock-Erlebnisse“ hat Walter Benjamin jene kurzen Momente genannt, in denen ein unerwartetes Ereignis die Trennung von Bewußtsein und Unbewußtem durchbricht und den Blick freimacht auf Erfahrungen, die ins Vergessen verbannt wurden. Erinnerungen an den Spott, als die ersten aus dem Bekanntenkreis begonnen haben, dieses Ding bei Besuchen mit in die Wohnung zu schleppen. Wie wir irgendwann akzeptiert haben, daß man auch dem besten Freund nicht zumuten kann, uns sein Prunkstück für eine schnelle Besorgung zu leihen. Weit zurückliegend: das erste, vorsichtige Bedauern, daß uns allein die beständige Finanzmisere am wahren Radler- Glück hindert. Später die immer ungenierteren, neidvollen Blicke, wenn's wieder einer geschafft hatte.

Kein Zweifel: Was keinem anderen Freizeitsportgerät nur annähernd gelungen ist, kann sich dieses häßliche, unbeholfen wirkende, klobige Geschöpf an seine Fahnen heften: die Überwindung gesellschaftlicher Widersprüche im Langnese-Lebensgefühl — zumindest für die Dauer sonntäglicher Ausfahrten oder bei den unerschöpflichen Fachsimpeleien im Biker-Shop.

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