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Kampf mit Worthülsen für Gerechtigkeit

Erste landesweite Versammlung von 44 Komitees für Gerechtigkeit in Berlin/ Allgemeines Lamento und Medienschelte  ■ Aus Berlin Thorsten Schmitz

Die Stimme des untersetzten Herren überschlug sich, vor Erregung sprach er am Mikrophon vorbei. Die Presse müsse sofort die Friedenskirche in Berlin-Weißensee verlassen. Sie „darf nicht zugelassen werden aufgrund ihrer negativen Berichterstattung“, so der Redner mit erhobenem Zeigefinger. Ermutigt haben könnte den Mittdreißiger eine Medienliste, die all jene in die Hand gedrückt bekamen, die zur ersten landesweiten Versammlung der inzwischen 44 „Komitees für Gerechtigkeit“ gekommen waren. Auf zwei Seiten listet das Brevier nationale und internationale Medien auf, von der chinesischen Presseagentur bis zur Volksstimme Magdeburg — und deren Ansprechpartner. Beim Berliner Tagesspiegel ist es eine „Fr. Wirsing“. Darunter in Klammern: „Gegner!!!“

Die rund hundert nach Gerechtigkeit suchenden Männer und Frauen beschlossen dann aber per Akklamation, daß die Presse bleiben dürfe: „Man muß denen überlassen, ob sie objektiv Bericht erstatten oder nicht“, sagte einer.

Bericht erstatten läßt sich im allgemeinen dann, wenn etwas passiert. Manchmal passiert nichts, dennoch wird berichtet. Die „Komitees für Gerechtigkeit“ — für Konrad Weiß vom Bündnis 90 nichts als „Nostalgievereine“ — stützen diese These. Das heißt, es wird viel geredet, gesagt wird aber nichts. So war das Motto am Samstag in Weißensee: „Bangemachen ist unsere Strategie, unser Trumpf liegt in der Drohung.“ Die Redner und Rednerinnen aus Dresden, Jena, Gera und Cottbus beklagten allesamt Mietpreiserhöhungen, Arbeitslosigkeit, das Märchen vom Aufschwung-Ost und fehlende Gerechtigkeit. Sie appellierten an ein diffuses Wir. Doch wie die Komitees ihre Auffassung von Politik und von Gerechtigkeit durchsetzen wollen, sagte niemand.

Der Populist Peter-Michael Diestel, bis vor kurzem noch CDU- Fraktionschef im Brandenburger Landtag und außer PDS-Chef Gregor Gysi Initiator der Gerechtigkeit- Komitees, zeigte sich auch nicht viel schlauer. Zum Auftakt des Treffens sagte er, er wolle eigentlich gar keine Rede halten, wolle nur bestätigen, „daß die Presse einen ganz schnell in den Dreck ziehen und ganz schnell wieder hochziehen kann“. Der braungebrannte Beau bekundete Solidarität — „Ich möchte einer von Ihnen sein!“ — und offenbarte zum Schluß: „Ich spüre Freude, wenn ich sehe, wie die Nadelstreifen-Politiker sich winden und wenden, weil unsere Komitees ihnen unangenehm sind.“ Um 11 Uhr 26 verließ Diestel mit seinem Bodyguard die Kirche. Das Treffen ging erst zehn Stunden später zu Ende.

Für den abgewickelten Humboldt-Uni-Rektor Heinrich Fink sind die Komitees Bürgerinitiativen, keine Sammlungsbewegung. Notwendige Bürgerinitiativen, denn: „Was in Rostock passiert ist, ist ein Zeichen für das Versagen der Politik. Deshalb ist es an der Zeit, daß die Menschen in den neuen Bundesländern sich selbst zur Wehr setzen.“ Die Komitees zeichneten sich gerade dadurch aus, daß es in ihnen „von unten nach oben zugeht“, also „demokratisch“. Was und wie die Komitees von unten nach oben, demokratisch und wehrhaft tun können und werden — darüber schwieg auch Fink.

Koordinieren, organisieren, absprechen mit und untereinander, klarwerden über, aufklären, bewußt machen: diese und noch viele andere Worthülsen schwirrten durch die Friedenskirche. Die weitestgehende Forderung formulierte ein Redner aus Berlin: „Ich könnte mir vorstellen“, sagte er, „daß man wieder eine Notstandsgesetzgebung einführt. Die müßte dann das Gemeinwohl für bestimmte Zeit vor alle Einzelinteressen stellen.“ Sein Vorschlag wurde beklatscht.

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