: „Clandestini“ — Die letzte Stütze
Ohne die illegalen Fremdarbeiter könnte Italiens Ökonomie nicht einmal einen Monat lang überleben ■ Aus Rom Werner Raith
Erfolgreich ist sie — die „Lega lombarda“ in Mailand. Die neue Partei ging mit der Fremdenangst hausieren und kam bei den letzten Kommunalwahlen auf zehn Prozent der Wählerstimmen. Ihre Billigformel: „Wir haben in der Lombardei bei acht Millionen Einwohnern rund eineinhalb Millionen Nicht-Lombarden, die in den letzten zwanzig Jahren zugezogen sind. Von denen halten rund 400.000 Leute unsere Arbeitsplätze besetzt. Andererseits haben wir ziemlich genau so viele Arbeitslose hier...“ Die Schlußfolgerungen sind einfach: erstens schleppen offenbar die Zugewanderten, im Verhältnis eins zu vier, nichtarbeitende Mitesser mit sich, und zweitens könnte man das Arbeitsplatzproblem leicht lösen, würfe man nur die Fremdlinge aus der Gegend um Mailand hinaus.
Der Zorn der Norditaliener richtet sich vor allem gegen eigene Landsleute — die aus dem Süden kommenden Sizilianer und Kalabresen, die seit dem Industrialisierungsschub der sechziger Jahre von den großen Firmen geholt wurden, dann ihre Familien nachkommen ließen und nun überwiegend schon in der zweiten Generation dort leben.
In ihrer Heimat, an der Stiefelspitze Italiens und auf Sizilien, stellen Gewerkschafter eine ähnliche Rechnung auf, allerdings für andere Personengruppen und in vornehmerer Wortverkleidung: „Rund 30 Prozent aller Arbeiten werden in unseren Regionen von nicht autorisierten Personen durchgeführt“, und, oh Wunder, „dies entspricht andererseits ziemlich genau der Zahl derer, die verzweifelt nach Arbeit suchen, aber keine bekommen, weil alle Arbeit schon vergeben ist.“ Die „nichtautorisierten Personen“ werden nur in informellen Gesprächen der Gewerkschafter korrekt benannt: Es sind Wanderarbeiter, überwiegend aus dem Maghreb, Zentralafrika, dem Mittleren und dem Fernen Osten. Auf gut 750.000 beziffert die Regierung ihre Zahl, Gewerkschafter vermuten das Doppelte.
Regierung wie Opposition wurden und werden nicht müde zu betonen, wie wichtig es sei, daß sich Gastarbeiter registrieren ließen — „für ihre Gesundheit, Sicherheit, gegen Ausbeutung und die Angst vor dem Entdeckt- und Ausgewiesenwerden“. Außerdem sei es ein „Raub am Gemeinwesen, wenn so Steuern und Abgaben in Milliardenhöhe hinterzogen werden“. Tatsächlich aber könnte Italiens Wirtschaft nichts schlimmeres passieren, als daß sich die „Clandestini“ registrieren ließen und danach mit vollen Rechten auf den legalen Arbeitsmarkt treten — wie auch den Lombarden um Mailand nichts Unbekömmlicheres geschehen könnte, als daß die verhaßten Süditaliener wieder abziehen. „Rechnen können nämlich wir, bei all unserer Unbildung, auch“, sagt Bosambo N'kuma, legal gemeldeter Zuwanderer aus der Elfenbeinküste, der in Schwierigkeiten geratenen Illegalen hilft: „An jedem Clandestino spart Italiens Wirtschaft im Monatsdurchschnitt eine bis anderthalb Millionen Lire“ — umgerechnet 1.300 bis 1.950 Mark. Und von jedem Sizilianer in Norditalien, weiß wiederum Carmelo Cacopardo, aus der Gewerkschaft ausgetretener ehemaliger Fiat-Arbeiter, „profitiert die dortige Wirtschaft zumindest mit einer halben Million pro Monat“.
Die Beweise können die beiden leicht antreten. Ein angemeldeter ungelernter Arbeiter verdient in Italien rund 1,3 Millionen Lire, der Arbeitgeber muß darüber hinaus etwa eine halbe Million für Gesundheits-, Renten- und andere Versicherungen ausgeben. Ist der Betreffende jedoch nicht gemeldet, fallen nicht nur die Abgaben weg. Der Unternehmer behält natürlich auch die Steuern ein, die der Arbeiter zahlen müßte, rund 20Prozent seines Lohnes. Da sich der Angeheuerte meist nicht zu wehren weiß, zieht der Firmenboß ihm auch sonst noch allerhand ab.
So behalten etwa die Großgrundbesitzer, die tagtäglich die am Straßenrand wartenden Ausländer in Castelvolturno bei Neapel abholen und zum Tomatenpflücken fahren, gleich mal 5.000 Lire (monatlich also 150.000 Lire oder 185DM) an „Transportgeld“ ein; dann drängen sie den Arbeitern Strohhüte auf — angeblich gegen den Sonnenstich, in Wirklichkeit aber, um sie für Vorbeifahrende wie einheimische Frauen aussehen zu lassen, Leihgebühr: 1.000 Lire pro Tag; Selbstmitbringen gilt nicht. Ist die Ernte geringer als erhofft, gibt es weiteren Abzug, zertritt der Arbeiter ein paar Tomaten oder Paprika, zahlt er den Kilo-Verkaufspreis dafür. Ganz ähnlich haben Steinbruchbesitzer, Fischer und Baufirmen ein geradezu unerschöpfliches Repertoire an Abzügen gefunden, Resultat: Kaum einer der Illegalen bekommt am Abend mehr als 10.000 bis 15.000 Lire (13 bis 19,50 DM), auf den Monat gerechnet gerade 300.000 bis 350.000 Lire. Wer murrt, wird nächtens von Schlägerkommandos „ruhiggestellt“ oder ist seinen Job einfach los. „Sicher ist“, so N'kuma, “daß der Arbeitgeber drei Viertel dessen spart, was er einem legalen Arbeiter, zumal einem Landsmann, bezahlen müßte.“
Die meisten Südstaatler arbeiten nämlich für reduzierten Lohn, alleine schon, um sich beim Arbeitgeber beliebt zu machen und den Platz behalten zu können. Hier beläuft sich die Ersparnis auf bis zu 20Prozent.
Auch das Argument der Mitesser bei in den Norden gezogenen sizilianischen Familien läßt Cacopardo nicht gelten: „Daß die hierher nachgekommen sind, ist doch gerade ein Vorteil: Die geben dann alles, was sie verdienen, eben hier aus und schicken es nicht, wie der ,klassische‘ Wanderarbeiter, nach Hause, so daß am Arbeitsort kaum mehr etwas bleibt.“ Ausschließen kann man auch, daß die Familienmitglieder oder arbeitslos gewordene Zuwanderer der Allgemeinheit zur Last fallen — Italien kennt kaum Arbeitslosenunterstützung, und Sozialfürsorge ist faktisch unbekannt.
Erbost stellte denn auch Ex-Finanzminister Rino Formica, selbst Süditaliener, einmal fest: „Ohne dieses Netzwerk nicht gemeldeter, fast unendlich ausbeutbarer Arbeitsformen würde die Region ihren Reichtum bald abschreiben können.“ Nationalökonomen haben errechnet: Geht man von rund einer Million Illegaler aus, deren Arbeitsplätze legal besetzt und bezahlt würden, und bezahlte man den in Oberitalien arbeitenden Süditalienern den korrekten Lohn — Italiens Wirtschaft könnte sich nicht einen Monat lang vor der totalen Pleite retten. Mit den dann zwar einlaufenden Steuern könnte der volkswirtschaftliche Schaden nur minimal aufgefangen werden: Zehntausende von kleinen bis mittleren Unternehmen müßten dicht machen, weil sie auch mit dem Ausbeutersystem nur gerade eben über die Konkurrenz-Runden kommen. Die Gesundheitskosten würden explodieren, weil sie dann auf staatliche Kosten beglichen werden müßten, und das ohnehin marode Rentensystem wäre für Millionen weiterer Menschen nicht mehr zu finanzieren. „Die Ausbeutung illegaler Arbeiter und ausbeutbarer innerstaatlich wandernder Arbeitskräfte“, das hat auf einer internen Sitzung auch Italiens Arbeitgeberverband erkannt, „ist derzeit, man mag es mögen oder nicht, sich schämen oder sich seiner Schlitzohrigkeit rühmen, so ziemlich die letzte Stütze des Systems Italien.“
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