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Wenn Graumoos glüht

Ein experimenteller Roman des Isländers Vilhjálmsson  ■ Von Thomas Fechner Smarsly

Wer kennt hierzulande schon Literatur aus Island? Laxness, na gut, aber der hatte auch gerade seinen 90. Geburtstag und früher einmal den Nobelpreis bekommen. Und sonst? Gudbergur Bergsson — nie gehört? Oder Svava Jakobsdóttir, Gyrdir Eliasson, Einar Már Gudmundsson vielleicht... Nein? (Allein schon die Unaussprechlichkeit dieser Namen!)

Die Zumutung des Tages heißt Thor Vilhjálmsson, sein Roman trägt den Titel „Das Graumoos glüht“, und bei aller Liebe zur Natur hat er überhaupt keinen Humor. Damit wären die negativen Seiten auch schon erwähnt, der Rest ist voll des Lobes!

Humor wäre angesichts der Handlung wohl auch fehl am Platze: Ein junger Mann reist um die Jahrhundertwende in ein gottverlassenes Nest im Norden Islands. Er soll dort als Richter einen Prozeß führen gegen zwei Halbgeschwister. Der Vorwurf: ein inzestuöses Verhältnis in Tateinheit mit Kindstötung. Nach einem mehr oder weniger unter Druck zustandegekommenen Geständnis bringt sich die junge Frau noch während des Prozesses um, der Mann wird zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Soweit der dünne Handlungsfaden.

Um diesen herum spinnt Vilhjálmsson ein außerordentlich dichtes Gewebe aus den Stimmen der einzelnen Personen, aus ihren Erinnerungen, ihren Beobachtungen, aus Träumen, halbbewußten Wünschen und Ängsten. Gegen diese sich ändernde individuelle Perspektive setzt Vilhjálmsson gewissermaßen eine statische: die Natur. In einer Region, in der sich in den letzten tausend Jahren nur wenig geändert hat und die kargen Mittel zum Leben der Natur abgetrotzt werden müssen, in der noch immer der Aberglaube und die Furcht vor Widergängern vorherrschen und in der das Schweigen die bevorzugte Umgangsform darstellt, in einer solchen Umgebung gewinnt die Landschaft eine eminente Bedeutung. Von einem platten Symbolismus kann dennoch keine Rede sein: Die nunancierten Wahrnehmungen der Natur fungieren als eine Art Seismograph für die subtilen Veränderungen, die in, mit und zwischen den Menschen vor sich gehen und das Schweigen über ihre Gefühle brechen, zumindest dem Leser gegenüber.

Veränderung erweist sich dabei als ein wesentliches Motiv des Romans. Der junge Richter Ásmundur, der selbstsichere und weltgewandte Leser von Nietzsches „Zarathustra“ und leidenschaftliche Fürsprecher der Industrialisierung, gerät während des Prozesses in eine tiefe Krise. Ausgelöst wird sie vordergründig durch die junge Angeklagte, die ihm gegenüber eine Stärke zeigt, die ganz im Gegensatz steht zur Unterwürfigkeit der übrigen Landbevölkerung. Sie zieht ihn an, erinnert ihn an eine frühere Geliebte, eine ältere Frau, damals, auf dem Kontinent, seine Mutter... Ásmundur, bemüht sich zu beherrschen, vertritt eine harte Linie, während die Bevölkerung im Verlauf des Prozesses eine immer tolerantere Haltung gegenüber dem Liebespaar einnimmt. Dieser Gegensatz spitzt sich mehr und mehr zu, insbesondere in der Auseinandersetzung zwischen Ásmundur und dem Pfarrer, einem ehemaligen Schulfreund. Sie vertreten zwei konträre Wertehaltungen, eben die neue des starken und genialen Einzelnen, der die Gemeinschaft nach vorne treiben soll, und diejenige einer humanistisch geprägten Toleranz, für die nicht der Fortschritt, sondern eben das Wohl der Gemeinschaft oberstes Maß bleibt.

Ein solcher Dualismus würde dem Roman freilich nicht gerecht, auch nicht der Versuch, die eine oder andere Position als Norm des Buches auszugeben. Von Anfang an weist Vilhjálmsson den Leser darauf hin, daß die Dinge kompliziert sind. Denn eigentlich beginnt der Roman mit einem Mord: Ein Mann tötet seine schwangere Geliebte, und lange Zeit weiß der Leser nicht, ob es um diesen oder den anderen Fall geht. Auch die Beziehung der beiden wird erst spät klar. Ásmundurs Vater, ebenfalls Richter, hatte den anderen Prozeß geführt, und so wird die Geschichte auch zu einer Auseinandersetzung mit dem abwesenden Vater und seiner durchaus anwesenden Autorität.

Erstaunlich bleibt, wie es Vilhjálmsson gelingt, diese Motive — und das sind beileibe nicht alle — derart kunstvoll zu verflechten. Mit den Mitteln des herkömmlichen, realistischen Romans war das nicht zu machen. So finden die einzelnen Stimmen stilistisch ihren Widerhall, indem Dialogpassagen mit Abschnitten wie aus einem Gerichtsprotokoll wechseln, innere Monologe, mitunter ohne Punkt und Komma, lösen knappe Beschreibungen ab, der elliptische Stil mündlicher Dichtung geht in weit ausholende, rhythmisierte Sätze über.

Am erstaunlichsten ist dabei, daß der sonst gegenüber sogenannter „experimenteller Literatur“ gern geäußerte Vorwurf der „Unlesbarkeit“ hier überhaupt nicht zutrifft (ob er das sonst tut, wagt der Autor zu bezweifeln). Im Gegenteil, das Buch ist sogar ausgesprochen „lesbar“ und auf Island außerordentlich erfolgreich. Und das, obwohl Thor Vilhjálmsson als „Europäer“ verschrien war, der seine Einflüsse eher von Beckett, Kafka und dem „nouveau roman“ bezieht als von den isländischen Sagas. Insofern spiegelt Ásmundur vielleicht ein wenig die Geschichte des 1925 geborenen Vilhjálmsson wieder: Beide entstammen großbürgerlichen Verhältnissen, beide lebten in ihrer Jugend in europäischen Metropolen und wurden geprägt von europäischer Kultur, beide erlebten den völligen Gegensatz dazu: eine nahezu archaische Kultur in einer archaischen Landschaft. Und beide wurden Schriftsteller, denn Ásmundur ist lediglich das literarische Pseudonym für den bekannten isländischen Dichter (und Richter) Einar Benediktsson und der geschilderte Fall authentisch.

Aber für das Buch bleibt dies letztlich unwesentlich. Ob man dem Roman viele Leser wünschen sollte? Ein paar hundert würden schon reichen! Jene vor allem, die sich dafür interessieren, wie Graumoos aussieht, wenn es glüht.

Thor Vilhjálmsson: „Das Graumoos glüht“. Deutsch von Marita Bergsson und Günther Wigand. Kleinheinrich Verlag, 1992, 235 Seiten, 38DM.

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