Deng Xiaoping und die Wendehälse

Im Vorfeld des 14.Parteitages der Kommunistischen Partei Chinas schart Deng die Parteifunktionäre um seinen Reformkurs/ Linkskonservative Kritiker des Altpolitikers konvertieren derweil zu „begeisterten“ Marktwirtschaftlern/ Neue Ängste vor einer Überhitzung der Wirtschaft und sozialen Unruhen  ■ Von C.Sampson/J.Lietsch

Der 88jährige Deng Xiaoping hat in China kein offizielles Amt mehr inne, er ist aber immer noch der mächtigste Mann des Landes. Wie stets in den heißesten Sommerwochen hat er sich auch dieses Jahr aus der „neuen verbotenen Stadt“, dem abgeschotteten Regierungsviertel Pekings, nach Beidaihe zurückgezogen. Mit ihm begab sich alles, was in der chinesischen Führung Rang und Namen hat, in die Villen des knapp 300 Kilometer entfernten Badeortes — wenn auch seine wichtigsten Widersacher im parteiinternen Machtkampf, Planwirtschaftler Chen Yun und Vizepräsident Wang Zhen, aus Alters- oder Gesundheitsgründen zu Hause geblieben sein sollen.

Für nicht wenige der Sommerfrischler aber war die kühlere Meeresbrise in diesem Jahr kein Trost. Sie mußten befürchten, beim kommenden 14. Parteitag ihren Posten oder zumindest Einfluß zu verlieren. In der vergangenen Woche traf der frische Wind der Reform den chinesischen Finanzminister Wang Bingqian. Der 67jährige Wang, der mehrfach vor einer Überhitzung der Wirtschaft gewarnt hatte, trat nach offiziellen Angaben „wegen schlechter Gesundheit“ zurück und wurde durch den zehn Jahre jüngeren Wirtschaftsexperten Liu Zhongli ersetzt.

Noch steht das genaue Datum des Parteitages nicht fest. Die chinesischen Offiziellen schweigen sich aus oder machen widersprüchliche Andeutungen. Kurz nachdem Arbeitsminister Ruan Chongwu in diesen Tagen von „November oder Dezember“ sprach, erklärte der Präsident des Nationalen Volkskongresses, das Treffen werde Mitte bis Ende Oktober stattfinden. Dieses Hin und Her macht zumindest deutlich, daß die parteiinternen Machtkämpfe noch längst nicht entschieden sind.

Allerdings scheint Deng sich immer mehr durchzusetzen — im Sinne noch radikalerer Wirtschaftsreformen. Dengs Devise lautet Wirtschaftswachstum: Im Sommer kündigte die Regierung auf seinen Vorschlag hin den höchst ungewöhnlichen Schritt einer Revision ihrer Bibel, des Fünf-Jahres-Plans, an, um die Wachstumsrate bis zum Ende des Jahrhunderts von den ursprünglich geplanten sechs Prozent auf zehn zu erhöhen.

Glaubt man der chinesischen Presse, bekommt China jetzt nicht mehr nur die „geplante Warenwirtschaft“, sondern eine vollblütige Marktwirtschaft. Marktwirtschaft, so ein Peking nahestehendes Hongkonger Blatt, sei der Traum des KP- Chefs Jiang Zemin, der als unbegeisterter Reformer beschrieben wird, ebenso wie „der meisten“ anderen Mitglieder des Ständigen Ausschusses des Politbüros.

Seit Januar, als Deng sich in einer Demonstration des Unmuts mit der Führung von Li Peng und Jiang wieder öffentlich zeigte und den reformfreudigen Süden Chinas bereiste, ist der neue Kurs offenkundig. Damals hatte Deng den Chinesen erklärt, sie sollten sich den Kopf nicht darüber zerbrechen, ob ihr Tun kapitalistisch oder sozialistisch wäre — was viele Firmen dazu ermutigte, Aktien auszugeben. Vorzugshandelsbedingungen, die zuerst in den vier Wirtschaftssonderzonen angewandt worden waren, wurden nun auf eine Reihe von Städten in ganz China ausgedehnt. Staatliche Betriebe erhielten in noch größerem Umfang die Genehmigung, Nebenerwerbszweige zu betreiben. Sogar Bürokraten in Regierung und Partei wurden aufgefordert, sich neue Verdienstmöglichkeiten auszudenken.

Eine Hongkonger Firma erhielt kürzlich die Genehmigung, die Mehrheitsbeteiligung in einer bankrotten Staatsfabrik zu erwerben. Ministerien und staatliche Unternehmen beeilen sich, Geschäfte und Restaurants zu eröffnen, um sich sozusagen selbst zu subventionieren.

Ein großer Teil der chinesischen Bevölkerung unterstützt diese Neuerungen — sie geben ihr die Möglichkeit, nach drei Jahren Austeritätspolitik endlich wieder Geld zu verdienen. Die Unruhen im August vor der Börse der Sonderwirtschaftszone Shenzhen, wo sich rund eine Million hoffnungsvolle ChinesInnen zum Erwerb von Berechtigungsscheinen zum Aktienkauf eingefunden hatten, zeigen aber auch, wie wenig die chinesische Wirtschaft und Bürokratie auf diese Entwicklung vorbereitet sind. Zugleich warnen Ökonomen selbst in der offiziellen Presse vor einer Überhitzung der Wirtschaft. Sie könne zu Inflation, Hamsterkäufen, Sturm auf die Banken und sogar zu Massenunruhen wie zuletzt im Frühsommer 1989 führen, heißt es.

Denn eine logische Folge der neuen Politik ist massiver Arbeitsplatzabbau in den Staatsbetrieben — früher unter der Parole „Zerbrechen der eisernen Reisschüssel“ bekannt. Zwanzig Millionen Arbeitskräfte, sagte der Arbeitsminister Ende August, könnten aus der staatlichen Industrie entlassen werden. Aber eine Entlassung von Arbeitskräften oder eine Kürzung ihrer Prämien ist ausgesprochen unpopulär in einem Land, in dem die Leute — im staatlichen Sektor zumindest — die Erwartung auf einen lebenslang garantierten Arbeitsplatz haben, und wo alles einschließlich der Wohnung davon abhängt, daß man einen Job hat.

In den vergangenen Monaten gab es Berichte von Demonstrationen und Streiks, und sogar das Parteiorgan Volkszeitung spricht von „Unzufriedenheit“ unter der Bevölkerung. Die Menschenrechtsorganisation Asia Watch sprach jüngst von verschärfter Repression gegen inoffizielle Arbeiterzusammenschlüsse. Die neuesten Entwicklungen, erklärt Asia Watch, wiesen auf die Entschlossenheit der Behörden hin, eine chinesische „Solidarnosc“ zu verhindern.

Die konservativen Kräfte sind über die Gefahr von Unruhen tief beunruhigt. Aber sie können ihre Sorge um so weniger laut kundtun, je mehr Spekulationen um eine bevorstehende, von Deng geleitete Säuberung der KP von Reformgegnern beim kommenden Parteitag die Runde machen. Stattdessen werden sie zu Wendehälsen. Schon immer hat es in China eine „Wind-Fraktion“ von Politikern gegeben, die ihr Mäntelchen schlicht in die herrschende politische Brise hängen. Nun scheinen sogar die verstocktesten Opponenten Dengs ihre Prinzipien aufzugeben.

So zum Beispiel der Parteichef von Peking, Li Ximing. Er, ein langjähriger Praktiker des Linkskonservatismus, tut jetzt so, als habe er nie im Leben einen Hardliner-Gedanken gehegt. In einem Artikel auf Seite Eins der Pekinger Zeitung echote er Dengs Aufforderung zu radikaler Reform und ging sogar soweit, die früher von ihm selbst praktizierte linke Politik zu attackieren. Auch als Dengs alter politischer Gegenspieler Chen Yun im Mai seine Unterstützung für Deng kundtat, gab es verbreiteten Verdacht, es handele sich dabei um ein reines Lippenbekenntnis. Schließlich ist Chen der Vater der „Vogelkäfig-Theorie“, nach der die Wirtschaft nur innerhalb der Grenzen des Planwirtschaft-Käfigs liberalisiert werden darf.

Daß die Konservativen tatsächlich nur Lippenbekenntnisse abgeben, ist die wahrscheinlichste Interpretation für die Wendemanöver von Leuten wie Li Ximing. Deng könnte sich jedoch damit zufriedengeben, solange die Linken keine aktive Obstruktionspolitik betreiben. Für den Parteitag hat er bereits Sorge treffen lassen, daß vier seiner lautstärksten Kontrahenten nicht als Delegierte aufgestellt worden sind — darunter Gao Di, Herausgeber der Volkszeitung und ehemaliger Berater von Premierminister Li Peng. Gao Di hatte versucht, sich bei Deng beliebt zu machen, indem er einen Lobesartikel über den Reformprozeß verfaßte, er hat damit aber offensichtlich keinen Eindruck gemacht.

Die beiden höchstrangigen Funktionäre der Propaganda-Abteilung, Wang Renzhi und Xu Weicheng fielen bei der Wahl der Delegierten ebenfalls durch, wie auch Deng Liqun, ein Mitglied des Beratungsausschusses der Partei, der bei vielen Leuten wegen seiner Ansichten zur Witzfigur geworden ist.

Diese „Viererbande“ ist jetzt am Boden, aber noch nicht erledigt. Denn Gao Di und Wang Renzhi sind beide Mitglieder des Zentralkomitees der Partei und könnten vom Parteitag immer noch ins neue ZK gewählt werden.