: Ein mühsamer Prozeß
■ betr.: "Die Taucherkrankheit" von Sonja Margolina, taz vom 2.9.92
betr.: „Die Taucherkrankheit“ von Sonja Margolina,
taz vom 2.9.92
[...] Sonja Margolina schreibt zwar in ihrem Artikel sehr richtig, daß es die eine Wahrheit nicht gibt, sie scheint diese aber doch gepachtet zu haben. Allein der letzte Satz („man darf“, „sie müssen“) erhebt in dieser Form einen Universalitätsanspruch. Differenzierungen sind ohnehin nicht die Stärke des Artikels, es gibt eben nur die Wessis und die Ossis. Und im Westen ist die Moderne (ein neues Heiligtum?), und die im Osten hinken dieser eben um 40 Jahre hinterher. Die demokratische Gesellschaft der alten BRD (mit aufgebaut von ehemaligen Nazi-Beamten, die jetzt offensichtlich auch die Moderne mit Löffeln gefressen haben) erscheint in Sonja Margolinas Artikel mal wieder als das Erstrebenswerteste in der Welt. Notwendig dazu (lerne ich aus dem Essay) ist die Individualisierung, bloß keine gemeinschaftlichen Bindungen, jedem sein Auto und Einfamilienhaus.
Daß das alles nur klappt, weil 80 Prozent der Weltbevölkerung eben nicht in einer solchen Gesellschaft leben und daß wir mit dieser konsumistischen Einstellung (und da unterschieden sich Ost- und Westdeutsche lange nicht so, wie es in dem Artikel den Anschein hat) kräftig zur Ruinierung von Mutter Erde beitragen, will Frau Margolina wohl am liebsten gar nicht hören. [...] Martin Zeise,
Homo socialisticus, Ost-Berlin
Liebe tazlerInnen, mal ehrlich: Hättet Ihr diesen Artikel auch dann veröffentlicht, wenn darin nicht von „Ossis“, sondern zum Beispiel von Afrikanern die Rede gewesen wäre? Würdet Ihr Sätze wie diesen abdrucken: „Das Drama der afrikanischen Intelligenz besteht darin, daß sie mit modernen Denkformen nichts anfangen kann...“? Sollte sich Chauvinismus in einem Wort komprimieren lassen und mit Austausch desselben aus dem betreffenden Satz verflüchtigen?
Nun zu Ihnen, Sonja Margolina.
Neben Ihren Vorurteilen gegenüber „Ossis“, die Sie alle in einen Topf werfen beziehungsweise die Ihrer Meinung nach alle aus einem sozialistischen Einheitsbrei gekrochen sind, gibt es in Ihrer Publikation logische Widersprüche und ebenso Fehleinschätzungen unsere Gesellschaft betreffend, in der wir nun einmal zusammen leben müssen.
Innerhalb eines Satzes negieren Sie zum einen die Existenz einer objektiven Wahrheit (die keine Auseinandersetzung wert ist, da sie für uns genauso irrelevant ist wie der absolute Nullpunkt — weil nicht erreichbar) und schreiben weiter, daß der Individualismus für den Menschen „die einzige Möglichkeit ist, seinen Weg durch das heutige hochkomplexe Leben zu finden“. Da gibt es sicher noch mehr Möglichkeiten, die wir beide nur nicht kennen.
Individualität im Verständnis der „modernen“ westlichen Zivilisation besteht häufig aus einer krankhaft zu nennenden Abschottung der Persönlichkeit gegenüber Einflüssen und Beziehungen, die das Individuum nicht mehr verarbeiten kann, basiert also auf mangelnder Souveränität des einzelnen.[...]
Modern ist nicht, wie Sie glauben, eine stärkere Individualisierung des Menschen, sondern ein Einbringen des Individuums in die Gesellschaft, welches einen souveränen Umgang mit der eigenen Individualität erfordert (es heißt ja auch Gesellschaft und nicht etwa Einzelhaft), das heißt Respektieren der Grenzen anderer und damit einhergehend zwangsläufig eine freiwillige Selbstbeschränkung der eigenen Person, nicht unterordnen, sondern etwas gemeinsam erreichen.
Schon wieder Ideale? Ja, und das Komische daran ist, daß die, die in der ehemaligen DDR paßten, auch hier nötig sind. [...] Martin Lucas, Ost-Berlin
Ekkehard von Braunmühl hat vor kurzem in der Zeit gesagt, daß sowohl PolitikerInnen als auch Intellektuelle nicht aus der Sinn- und Erklärungskrise finden würden, solange sie nicht in der Lage wären, mit ihrem Intellekt auch die Gefühle zu verstehen, die bekanntlich eine starke Triebfeder des Handelns sind. Die Schwierigkeiten, die bei der Findung der geistigen Einheit beklagt werden liegen nach meinen Erfahrungen eben in diesem Zusammenprall der Ungleichzeitigkeiten in der Entwicklung, wie sie Sonja Margolina beschrieben hat. Es ist nicht nur die Anpassung an die Moderne —was immer darunter verstanden wird—, die Infragestellung des eigenen Wertesystems und der Zwang zur Selbstorganisation des eigenen Lebens, es ist vor allem die Mißachtung ihrer Gefühle, die den Ostdeutschen zu schaffen macht. Das reicht von der Verächtlichmachung (rückständig, unflexibel, larmoyant) bis zur Diffamierung und offener Feindseligkeit. Wenn es schon den Intellektuellen nicht gelingt, einen gegenseitigen Lernprozeß in Gang zu setzen, der über das rein Organisatorische einer Aufgabe oder eines Projektes hinausgeht, wie kann dann von NormalbürgerInnen etwas anderes verlangt werden? Die Menschen im Osten finden sich eben nicht nur in einem anderen Werte- und Sozialsystem wieder, sondern in einem Land mit einer anderen Kultur. [...]
Ich stimme mit Frau Margolina überein, daß man die Menschen im Osten nicht ständig unter moralischen Druck setzen sollte. Die Ungleichzeitigkeit gesellschaftlicher, kultureller und auch moralischer Entwicklungen läßt sich weder mit erhobenem Zeigefinger noch mit Drohgebärden überwinden. Es ist ein langwieriger, mühsamer Prozeß. [...] Renate Helling, Ost-Berlin
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