: Politik der verbrannten Erde in Kurdistan
Die türkische Armee brennt systematisch Dörfer im Südosten des Landes nieder/ Vertreibung der Bevölkerung/ Die Hälfte der Einwohner von Caglayan sind heute obdachlos/ Nach einer einstündigen „Razzia“ standen 21 Häuser in Flammen ■ Aus Kurdistan Ömer Erzeren
Der Spiegel an der Wand ist zersprungen. Der Fernseher wurde mit einem Beil zerstört. Ein eingerahmtes Plakat hängt noch da: „Gottes Wort geschehe“. Das verstaubte Telefon steht auf einer kaputtgeschlagenen Kommode. Seit Jahren schon sind die Telefonleitungen gekappt. Mobiliar ist ohnehin ein Fremdwort in dieser Lehmhütte mit ein paar Kissen und Matratzen, die mit Schafswolle gefüllt sind. Aus dem Fenster, das keine Glasscheiben mehr hat, öffnet sich der Blick auf abgebrannte Ruinen, auf die Lehmhütten der Nachbarn, die bis auf die Grundmauern niedergebrannt sind. Der Geruch versengten Heus beißt in der Nase. „Selbst Ungläubige begehen nicht solche Verbrechen“, zürnt der alte Mann mit den ausgefallenen Zähnen.
Es waren nicht Ungläubige, deren Zerstörungswut keine Grenzen kannte. Es war das türkische Militär, das im Morgengrauen des 2. September in das kurdische Dorf Caglayan eindrang. Nur eine Stunde dauerte die Razzia. Wie üblich mußten sich alle — Männer, Frauen und Kinder- auf dem Dorfplatz versammeln. Vier junge Männer nahm das Militär mit. Als die Soldaten das Dorf verließen, stand Caglayan in Flammen. Genau 21 Häuser und eine Wassermühle hatte das Militär in Brand gesteckt.
Einer der Männer in der Hütte erhebt sich und weist auf den Cudi- Berg: „Sie lügen. Sie sagen, daß sie mit Helikoptern die Guerilla in den Cudi-Bergen bombardieren. Dabei kommen sie in unsere Dörfer und fackeln die Häuser ab. Der Grund ist einfach. Mit der Guerilla werden sie nicht fertig. Also machen sie uns fertig.“
Keine Zukunft
Caglayan ist eine Bilderbuchidylle mit Enten, die im Teich schwimmen, und Vogelgezwitscher inmitten der Stille. Eine grüne Oase zwischen den bräunlich-gelben Gebirgsketten. Von dem Fluß zweigt ein Netz von Aquädukten ab, die das gesamte Dorf durchziehen. Weinstöcke, Gemüsegärten und Obstbäume, soweit das Auge reicht. „Euer Dorf ist ein Paradies. Wir werden es abbrennen!“ soll der Offizier gerufen haben, als sich die Einwohner auf dem Dorfplatz versammeln mußten, während die Brandstifter in Uniform willkürlich Feuer legten.
Der 60jährige Seyfettin Özdemir ist einer der reichsten Männer im Dorf. Sein Haus, das sich um einen weiträumigen Innenhof gruppiert, ist bis auf die Grundmauern abgebrannt. Seine Frau Selime versuchte noch, das Feuer zu löschen. Mit Brandwunden an den Händen und am Rücken wurde sie schließlich in das Krankenhaus von Cizre eingeliefert. Seine zehn Kühe muß Özdemir jetzt verkaufen: „Das Futter ist abgebrannt. Ich kann sie nicht ernähren“, sagt er. Wie die überwältigende Mehrheit der rund vierhundert Einwohner will er alsbald das Dorf verlassen. „Was soll aus den Gärten und Feldern werden?“ fragt er hilflos.
Die kurze Razzia hat nicht nur 200 Menschen obdachlos gemacht. Sie war gleichsam eine Drohung. Caglayan muß entvölkert werden. Caglayan wird von der Landkarte getilgt werden. Einen zivilen Widerstand gegen Bewaffnete, die es darauf abgesehen haben, die Einwohner zu vertreiben, kann es nicht geben. Es gibt nur noch eine zittrige Stimme, die beklagt: „Es ist unsere kurdische Heimat.“ Und als wolle er es beweisen, holt Özdemir einen marmornen Block mit vorchristlichen Inschriften, die sich hier zuhauf finden. Doch Caglayan wird untergehen.
Caglayan steht für die Geschichte eines kurdischen Dorfes. Es steht für die Geschichte des Tauschhandels. Die Bauern aus Caglayan brachten anderen kurdischen Dörfer Obst und Gemüse. Im Gegenzug erhielten sie dafür Weizen, der dann in den Wassermühlen gemahlen wurde. Einst hat es auch Schafzucht gegeben. Doch dann hat das Militär den Schäfern verboten, ihre Tiere auf die Weiden in Richtung der Berge zu treiben. Also war Schluß mit der Schafzucht.
Caglayan steht auch für die Geschichte der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Noch 1987 war der damalige Dorfvorsteher Mitglied der sogenannten Dorfschützer - Kurden, die vom türkischen Staat bewaffnet werden, um gegen die PKK zu kämpfen. Partisanen der PKK drangen in das Dorf ein und entführten den Dorfvorsteher und drei seiner Männer. Später wurden die Leichen gefunden. Seit dieser Zeit war keiner der Bauern mehr Mitglied der Dorfmiliz. „Wie glücklich, wer von sich sagen kann, daß er ein Türke ist“, steht noch auf dem Gebäude, das einst eine Schule war. PKK-Partisanen brannten die Schule 1988 nieder. Seit dieser Zeit gibt es auch keinen Lehrer mehr im Dorf.
Früher haben sogar Bauern dem Militär Bescheid gegeben, wenn die PKK des Nachts in das Dorf kam. Doch in der Dunkelheit trauten sich die Soldaten nicht in das von Partisanen kontrollierte Dorf. Statt dessen waren tagsüber Razzien des Militärs gang und gäbe. Bauern wurden verprügelt, weil sie mit Lebensmitteln die PKK unterstützten. Junge Männer aus dem Dorf wurden festgenommen und wochenlang in den Kasernen gefoltert. Im Laufe der Zeit unterstützten die Bauern mehr und mehr die Partisanen, die schließlich auch Kurden waren. Mehrere Jugendliche aus dem Dorf gingen in die Berge, zu der Guerilla.
Stolz tragen Kinder Anstecknadeln mit PKK-Flaggen. Ein 11jähriges Mädchen zeigt ihren Button mit dem Porträt des PKK-Führers Abdullah Öcalan. „Apo“, wie Öcalan genannt wird, „ist unser Führer.“ „Alle Kurden sind Guerilleros!“ klärt mich einer der Jugendlichen in dem Menschenpulk vor der Moschee auf. Der Militärposten am Eingang des Dorfes, der mehrfach von der PKK angegriffen wurde, ist seit dem vergangenen Frühjahr abgezogen. „Sie sind eben geflüchtet“, lächelt der Jugendliche mir zu. Die Antwort des Staates ist die Politik der verbrannten Erde. Hunderte von Dörfern sind in Türkisch-Kurdistan in den vergangenen Jahren entvölkert worden. Abgebrannte Häuser und Massaker zeigen ihre Wirkung. „Die Türkei will es Saddam Hussein nachmachen. Das Massaker in Sirnak war nur der Anfang.“
„Das sind doch keine Menschen. Das sind Tiere“, sagt mir ein Mitglied der berüchtigten Sondereinheiten der türkischen Armee, die die Straßensperren am Eingang Sirnaks kontrollieren. Er meint die Kurden. In dieser gespenstisch anmutenden Stadt lebten einst 32.000 Menschen. Nach Angaben des türkischen Innenministers waren am 18. August 1.000 bis 1.500 Partisanen der Arbeiterpartei Kurdistans in die Stadt eingedrungen und hatten sich Feuergefechte mit dem Militär geliefert. Sirnak straft die amtliche Darstellung Lügen. Die staatlichen Gebäude in Sirnak, die Kaserne, die Präfektur, die Wohnhäuser der Offiziere und die Polizeiwache sind die einzigen Gebäude, die überhaupt keine Schäden aufweisen, während die Wohnquartiere der kurdischen Bevölkerung dem Erdboden gleichgemacht wurden. Von den angeblichen 1.500 Terroristen konnte der Staat, der mit 15.000 Soldaten in der Provinz präsent ist, keinen einzigen dingfest machen. Die Apokalypse dauerte fast zwei Tage. Mit Mörsern, Raketenwerfern und Panzern wurde die Stadt vierzig Stunden lang beschossen.
Übriggeblieben ist ein total zerstörter Ort: ausgebrannte Autos, abgebrannte Häuser. Die Wände und Dächer der meist ein- bis zweistöckigen Gebäude sind wie Kartenhäuser eingestürzt. „Straße der Republik“ heißt die Geschäftsstraße in Sirnak. Es findet sich kein einziger Laden, der nicht geplündert oder in Brand gesteckt wurde. 250 Läden gab es in Sirnak. Von den 32.000 Einwohnern sind gerade noch ein paar tausend da.
Teppiche, Kühlschränke, Staubsauger, Fernseher, Video und Hi-Fi- Anlagen wurden einst bei Burcin, dem größten Geschäft des Ortes, verkauft. Übriggeblieben sind sonderbare, zusammengeschmolzene Klumpen. Die Eigentümer konnten noch nicht einmal das Bargeld in der Kasse retten.
Erinnerungen werden wach. Im Jahr 1989 verbrachte ich mehrere Tage im Hotel Cihan. Ich sehe mir an, was davon übriggeblieben ist. In dem engen Flur, der zu den Zimmern führt — vielleicht 6 Meter lang und einen Meter breit —, verbrachten die 17 Hotelkunden in qualvoller Enge den zweitägigen Dauerbeschuß. Ich erinnere mich an das Haus des wohlhabenden Rechtsanwalts Mesut Uysal. Uysal war einer der anerkanntesten Intellektuellen in Sirnak. Ein älterer Herr, der im Rahmen seiner Paragraphen unerbittlich für Menschenrechte stritt. Ich erinnere mich an seine junge Frau Zeynep. Sie brachte uns damals Tee und Kekse. Ihre ehemalige armenische Nachbarin rief aus Brüssel an. Sie redeten eine Stunde am Telefon. Mesut ist seit Monaten flüchtig. Ein Haftbefehl liegt gegen ihn vor. Zeynep drohten die Sondereinheiten mit dem Tod. Abgeordnete der „Arbeitspartei des Volkes“, die nach der Zerstörung Sirnak besuchten, gaben ihr „Begleitschutz“, so daß sie ungeschoren die Stadt verlassen konnte. Von dem Haus ist kaum etwas übriggeblieben.
Die Sondereinheiten — die Rambos — sind heute die Herren der Straße. Willkürlich kann jedermann auf offener Straße verprügelt oder zur Folter mitgenommen werden. Schließlich wurden laut amtlichen Angaben über 400 Personen in der Kleinstadt festgenommen. Im vorbeigehen grüßen mich alte Freunde. Manchmal flüstern sie mir kurz etwas zu, um sich alsbald wieder zu entfernen. „Die deutschen Panzer haben wieder geschossen“, „Paß auf dich auf, sie könnten auf der Rückfahrt das Feuer eröffnen“, „Widerstand heißt Leben“. Nach der Zerstörung der Stadt hißte das Militär besonders viele türkische Flaggen. Als wolle man sagen: „Die Stadt ist entvölkert, doch sie gehört uns.“
Die Vertriebenen aus den Dörfern oder aus Sirnak sind in die kurdischen Nachbarstädte geflüchtet. Silopi und Cizre sind Zentren der Fluchtbewegung. Cizre, das unweit der irakischen Grenze liegt, gleicht tagsüber einer besetzten Stadt. Mit Maschinenpistolen im Anschlag — die Schußwaffen auf die Passanten gerichtet — donnern Soldaten in Militärkonvois an dem Marktplatz vorbei. Die Melonenverkäufer haben sich längst daran gewöhnt. Die Stadt am Tigris hat im Laufe des vergangenen Jahres Zehntausende Flüchtlinge aufgenommen. Viele aus Sirnak und aus den umliegenden Dörfern haben Verwandte in Cizre.
Cizre gilt heute als Hochburg der PKK. Bei Dunkelheit traut sich kein einziger Sicherheitsbeamter auf die Straße. Wir streifen des Nachts durch die engen Gassen der Wohnviertel, in deren Mitte offen die Abwässer abgeleitet werden. In einer Hütte — 6 mal 3 Meter groß — hat eine Großfamilie aus Sirnak, insgesamt sechzehn Menschen, Zuflucht gefunden. Ein Verwandter aus Cizre hat ihnen das Haus organisiert. Einen Namen will niemand nennen. Doch nicht aus Angst. „Vielleicht gehen wir zu den Partisanen. Dann ist alles gut. In den Bergen wird eins zu eins gekämpft. Doch wie sollen wir uns wehren, wenn wir keine Waffen haben?“ Einer der Brüder hat in der Nähe des Dorfes Toptepe bei Sirnak gearbeitet. Sirnaker hoben dort Kohle aus, um sie auf ihre Esel zu laden und sie in der Stadt zu verkaufen. „Mit der Kohle werden Terroristen unterstützt“, verkündeten die Militärs. Eines Tages wurden die Kohlesammler von Soldaten umzingelt und aus einem Helikopter beschossen. „Sie haben die drei Männer, die getötet wurden, später im Fernsehen als Terroristen präsentiert“, sagt der Flüchtling. Alltag in Kurdistan.
Im Vorgarten der Hütte legt eine Frau ihr Kind in einer Hängematte schlafen. In der Runde der Männer wird über die Zukunft Kurdistans debattiert. „Die PKK ist das Volk, und das Volk sind wir“, sagt einer der Männer. „Sie [die Militärs, d.Red.] töten uns. Sie vertreiben uns. Doch letztendlich werden sie sich mit uns an den Tisch setzen müssen.“ Im Nachbarhaus wird ein Bunker ausgehoben. Die Menschen rüsten für die nächste Schlacht, deren Ziel Cizre sein könnte.
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