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„Ich kann das vor mir selbst rechtfertigen“

■ Hans-Ulrich Klose, Franktionschef der SPD im Bundestag, zur Wende in der SPD/ Der emotionale Haushalt der Deutschen hält den Artikel 16 Grundgesetz nicht mehr aus/ Die Abschaffung des Individualrechts auf Asyl macht die SPD jedoch nicht mit

taz: Die große Koalition liegt in der Luft. Wollen Sie sie?

Klose: Ich war für eine große Koalition, als sich die deutsche Einheit abzeichnete. Denn wenn es überhaupt eine nationale Aufgabe gibt, die eine solche Ausnahmeregierung nahelegt, dann diese. Es ist anders gelaufen. Heute halte ich das ganze Gerede über große Koalition für Quatsch. Die gegenwärtige Koalition macht weiter. Wer sollte gegen Kohl putschen? Die FDP wird es nicht tun. Denn sie hat nur einen Daseinszweck— zu regieren. Und mir heute den Kopf darüber zu zerbrechen, was ich 1994 mit welchem Wahlergebnis anfangen werde, halte ich für abwegig.

Die Debatte um eine große Koalition wurde durch die Petersberger Empfehlungen noch angeheizt...

Das hat aber nichts miteinander zu tun. Bloß weil in einem Interview mit Björn Engholm das Wort große Koalition fiel...

Die Petersberger Beschlüsse sind doch motiviert durch Stichworte wie Regierungsfähigkeit und die Auffassung, daß Ihnen die Menschen weglaufen, wenn Sie in der Asylfrage nichts tun.

Ich stecke nicht in jedermanns Kopf, aber das war nicht meine Motivation. Es gab für all das sachliche Gründe, die nichts mit Anpassung zu tun haben. Ich war früher gegen jede Änderung des Artikel 16, weil ich ihn für einen konstitutiven Anker unserer Demokratie gehalten habe. Ich kann aber einfach nicht übersehen, daß wir die Mengen, die jetzt kommen, nicht mehr bewältigen können. Die Kommunen sind überfordert. Und der emotionale Haushalt der Deutschen hält das leider nicht aus. Das meiste, was ich da an Emotionen wahrnehme, mißfällt mir zutiefst. Nur kann ich als Politiker nicht übersehen: sie existieren. Ich kann meinen Meinungswechsel auch vor mir selbst rechtfertigen, denn der Artikel 16 ist nicht für diese Art der Zuwanderung geschaffen worden. Heute haben wir eine andere Situation, es handelt sich um eine Völkerwanderung.

Sie haben bisher immer betont, die Geschäftsgrundlage bei jeder Diskussion über den Artikel 16 sei der Erhalt des Individualrechts auf Asyl. Doch der Beschluß des Parteivorstands sieht vor, Asylsuchende aus Ländern, in denen keine Verfolguung stattfindet, vom Verfahren auszuschließen.

Es geht nicht um eine Liste von Nichtverfolgerländern, wie sie die Union vorgeschlagen hatte. Wir wollen eine Beweisregel, die feststellt: in welchen Ländern findet Verfolgung statt? Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen hat mir in einem Brief zugesagt, daran wolle er mitwirken.

Wenn nun der berühmte Herr Kowalczik aus Lodz kommt und sagt zur Begründung seines Asylantrags nur, in Polen gäbe es politische Verfolgung, dann kann er laut Beweisregel nicht gehört werden. Wenn er aber sagt: „Ich persönlich bin dennoch Verfolgter aus den und den Gründen“, dann kommt er ins individuelle Asylverfahren.

Wie wollen Sie das in Verhandlungen mit der Union durchsetzen?

Bisher haben auch Wolfgang Schäuble und andere innenpolitische Experten der CDU gesagt, das Individualrecht bleibt. Offenbar ändert sich diese Position gerade. Wenn das Umsteigen der Union auf die Genfer Flüchtlingskonvention gleichbedeutend ist mit der Abkehr vom Individualrecht, dann haben wir ein Problem. Die sozialdemokratische Partei, für die die Bewegung in der Sache ohnehin ein identitätsrelevanter Punkt ist, wird das nicht mitmachen. Und ich würde ihr auch nicht raten, das zu tun. Statt dessen werden wir die Union in diesem Punkt zurückdrücken. Ich denke, daß auch die FDP das nicht mitmacht.

Sehen Sie denn irgendein Zeichen, daß die Union auf Ihren Kurswechsel in anderer Weise reagiert, als nur den Druck zu erhöhen?

Die Union kann das Problem nicht ohne uns lösen, aber sie muß es lösen, weil sie daran mehr verliert als wir.

Der Parteivorstand hat ein Einwanderungspaket beschlossen, in dem es nicht nur um die Änderung des Asylrechts geht, sondern auch um ein Einwanderungsgesetz. Paket klingt nach aufschnüren...

Wir kriegen doch nur im Paket eine Steuerung der Einwanderung hin. Wir müssen die Gruppe der Zuwanderer zerlegen und jeweils angemessene Lösungen finden. Es ist von der Sache her ein Paket. Das weiß auch die Union. Die Koalition muß im übrigen endlich mal sagen, was sie eigentlich will. Es liegt ja gar kein Koalitions- oder Regierungsvorschlag vor. Ich habe es satt, über Stöckchen zu springen, die uns die Union hinhält.

Ein Einwanderungsgesetz wäre aber doch das offizielle Eingeständnis, daß Deutschland ein Einwanderungsland ist. Die Union scheint nicht bereit zu sein, das zuzugeben.

Sie sind davon nicht begeistert, wissen aber, daß wir es nur in Verbindung mit einem Einwanderungsgesetz machen. Eine Lösung, bei der Artikel 16 geändert wird und das war es dann, ist mit uns nicht möglich.

Trotzdem haben Sie mit Ihren Beschlüssen atmosphärisch den Gedanken gestärkt, als bringe die Änderung des Grundgesetzes die Wende bei der Zuwanderung.

Ja gut, aber was soll ich denn machen? Ich kann doch nur immer wieder sagen, dies löst es nicht.

Haben Sie eine Vorstellung, wie lange der Verhandlungsprozeß mit der Regierung dauern könnte?

Ich hatte immer die Hoffnung, man würde sich vielleicht in diesem Jahr verständigen. Ob das erreichbar ist, weiß ich nicht. Das liegt zum Teil an uns, weil wir eine Partei sind, in der so etwas ohne Parteitag nicht zu entscheiden ist. Vor einem Parteitag können wir nicht abschließend verhandeln. All das dauert seine Zeit...

...Und Sie bleiben derweil völlig ruhig, auch wenn die Anschläge weitergehen?

Nein, aber diese Anschläge sind Ventil für eine Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit, die durch ganz andere Dinge ausgelöst wird. Was da stattfindet, ist Gewalt als Sinnstiftung.

Die Anschläge mögen andere Ursachen haben, aber sie zeitigen doch politische Nebenwirkungen...

...Das macht mich nicht hektisch. Die Regierung soll endlich anfangen, die Probleme zu lösen, um die es eigentlich geht. Warum sind diese Jugendlichen denn so perspektivlos? Was sollen die denn machen in ihren Betonsilos, ohne Arbeit, ohne Ausbildung?

Wir können nicht erkennen, daß die SPD beim Thema Asyl versucht, einen integrativen Weg zu finden. Die Tendenz ist doch eindeutig. Engholm sagt ja deutlich: Das ist ein Kurswechsel. Die Ängste bestimmter Leute werden stark bedacht, während diejenigen, die eine multikuturelle Gesellschaft wollen, vor den Kopf gestoßen werden.

Wer glaubt, er könnte mit dieser Zuwanderungsmenge eine multikulturelle Gesellschaft schaffen, der irrt in fataler Weise. Der schafft das Gegenteil.

Glauben Sie denn, daß Ihr Zuwanderungspaket, wenn es denn wirksam würde, auch nur annähernd die geweckten Erwartungen erfüllen kann?

Stoppen kann man die Zuwanderung nicht. Wir leben in Zeiten der Völkerwanderung, weil das Wohlstandsgefälle so groß ist. Zu glauben, diese Springflut mit Gesetzen aufhalten zu können, ist ein Irrtum. Wir können die Zuwanderung der materiellen und psychischen Integrationskraft entsprechend beherrschbar machen. Das ist das einzige Ziel der Operation. Was wir wollen, ähnelt stark dem Vorgehen der Schweiz, die eine Halbierung der Asylanträge erreicht hat. Die Schweizer sind dabei ehrlich genug zuzugeben, sie wüßten auch nicht genau, wie lange das so anhält. Was ich jedenfalls genau weiß: angesichts dieses Problems nichts zu tun, die Dinge laufen zu lassen, grenzt an politisches Abenteurertum.

Nichts tun ist ja nicht die Alternative. Es findet doch auch ein Kampf um die Stimmung im Lande statt. Wer sagt eigentlich der Bevölkerung, daß es in jedem Fall um das Teilen geht, bei der Zuwanderungsproblematik so gut wie bei der innerdeutschen Integration?

Wenn Sie es vom Materiellen her sehen, dann kann man auch sagen, daß die Bundesrepublik an einer begrenzten Zuwanderung sogar ein Interesse hat, angesichts unserer eigenen Bevölkerungsentwicklung.

Sie haben vorhin von einer „Springflut“ gesprochen und behaupten nun, damit unser demographisches Loch stopfen zu wollen...

Lassen Sie uns erst mal steuern. Ich glaube, das kann wirken. Ich will nicht, daß alle ungesteuert kommen...

... Sie meinen unsortiert

Meinetwegen auch unsortiert, aber es muß erträglich werden. Sie kriegen das Problem letztlich natürlich nur in den Griff, wenn die Lebensverhältnisse sich überall in der Welt so ändern, daß die Leute dableiben. Das möchte ich auch gerne. Aber wenn ich mir ansehe, wie problematisch die Situation allein in den neuen Ländern ist, wenn ich mir ansehe, wie es in Polen, in der Ukraine, in Rußland ist, dann weiß ich, daß das in den nächsten 15 Jahren nicht zu schaffen ist. Und daß alle hierherkommen, ist keine Alternative.

Ein starkes Motiv für den sozialdemokratischen Schwenk beim Asylrecht ist die Befürchtung, es könnte zu einer ausgeprägt rechtspopulistischen oder rechtsextremistischen Entwicklung kommen.

Wir haben diesen Rechtsruck in unterschiedlicher Ausprägung überall in den entwickelten Ländern. Warum ist das eigentlich so? Die Antwort lautet: die Welt hat sich in den letzten drei Jahren ungeheuerlich verändert. Ich glaube immer noch, zum Guten. Aber es gibt ein hohes Maß an Verunsicherung über die Konsequenzen dieser Veränderung. In dieser Zeit verlangen die Leute einfache Botschaften. Die Politik, jedenfalls die ernstzunehmende, kann ihnen solche Antworten aber nicht geben. Ich weiß nicht, wie es in den nächsten drei Monaten in Osteuropa aussieht. Was wird der Ausgang des französischen Referendums für Westeuropa bedeuten? Also kann die wirkliche Politik gerade mal das Schiff so fahren, daß es nicht an die Felsen donnert. Aber die Leute sind damit nicht zufrieden. Es gibt eine Neigung zu schrecklichen Vereinfachungen, zum Rechtsextremismus. Das ist der eigentliche Hintergrund. Nirgendwo ist diese Veränderung so dramatisch wie in Deutschland. Einmal wegen der Einheit, und zudem leben wir unmittelbar an der Wohlstandsgrenze.

Stimmt es denn überhaupt, daß heute einfache Antworten so gefragt sind? Wollen die Deutschen nicht vor allem nur eine Wahrheit vermeiden, nämlich die, daß es ihnen ans Portemonnaie geht? Anders als durch Verzicht, durch Opfer, durch Teilen ist doch weder die Zuwanderung noch die deutsche Einheit, noch die Umweltproblematik zu bewältigen.

Ich stimme in einem zu. Die Sozialdaten der letzten 15 Jahre weisen auffallend aus, daß für die Deutschen Wohlstand der oberste Wert ist, deutlicher als in vergleichbaren Ländern. Ich widerspreche aber, wenn es heißt, die Deutschen seien nicht bereit zu teilen. Die Deutschen haben ja schon circa 50 Milliarden Mark für die Einheit aufgebracht. Wenn man klar gesagt hätte, es wird ohne zusätzliche Opfer nicht gehen, die für bestimmte Aufgaben gebraucht werden, wäre die Bereitschaft dagewesen. Die Bereitschaft, solidarisch zu sein, wurde durch das Nichtsagen der Wahrheit zerstört. Doch ich sage als Poliiker ausdrücklich nicht Verzicht. Wir können unendlich viel erreichen beim Umweltschutz wie der Entwicklungspolitik, wenn wir das, was wir tun können, tun. Das kann sich durchaus mit unseren eigenen Interessen verbinden und läßt sich ohne Verzicht machen. Ich kann sogar sehr gut begründen, warum uns eine gute Umweltpolitik am Ende Kosten erspart.

In der SPD geht es derzeit um mehr als die Asylfrage, auch um mehr als UNO-Bundeswehreinsätze. Die SPD verändert ihre Prioritäten. Sie wendet sich viel stärker als bis Ende der 80er Jahre an diejenigen, die sich zur Mitte, nach rechts bewegen. Das links-grün-alternative Spektrum wird offenbar uninteressanter für die SPD. Im Gefolge dieser Entwicklung ändern sich auch die Koalitionsoptionen.

Ich habe bei den Koalitionsoptionen nie eine Präferenz gehabt. Die SPD muß sich in der Tat verändern, weil sich die ganze Welt verändert. Ich bestreite, was viele auch in der SPD vermuten, daß es bloß um einen taktischen Schwenk geht. Aus meiner Sicht ist es der Versuch, sich auf die veränderte Wirklichkeit einzustellen. An dem beteilige ich mich allerdings mit Nachdruck. Denn ich möchte nicht prinzipientreu auf Wolke sieben schweben, aber die Gestaltung der Dinge läuft ohne oder gegen uns. Wenn Sie mich verdächtigen, ich wolle regieren, da sage ich: der Verdacht besteht zu Recht.

Aber auch bei dieser veränderten Tagesordnung muß eine große Partei wie die SPD an bestimmten Themen festhalten, weil das einfach sachlich geboten ist. Was ist mit der Umweltfrage?

Ich sage immer noch: das eigentliche Menschheitsthema ist Umwelt und Entwicklung. Das müßte eigentlich der Kern der Reformstrategie der SPD sein. Trotzdem: wir können nicht umhin, die deutsche Einheit in den Mittelpunkt zu stellen. Denn sonst bricht uns dieses Land weg.

Warum muß denn wegen der Priorität deutsche Einheit alles, was im Fortschritt-90-Programm niedergelegt ist, so sehr ins Hintertreffen geraten?

Es ist zur Zeit unendlich schwer, damit durchzudringen.

Sie nutzen aber auch die Gelegenheiten nicht, in der die ökologischen Defizite der Regierung offenkundig werden, beispielsweise als jüngst klargeworden ist, daß die Regierung ihr CO2-Reduzierungsprogramm nicht durchhalten wird. Warum sind Sie damit nicht in die Offensive gegangen?

Ich bestreite, daß wir das Thema Ökologie in der Priorität zurückgestuft haben. Aber: auch die neuen Bundesländer wollen erst mal unseren Entwicklungsstand. Die wollen Straßen, die wollen Autos. So ist es nun mal. Sie können Menschen nur begrenzt verändern.

Wo liegt denn bei der Ökonomie und der deutschen Einheit die entscheidende Differenz zur Regierung?

Das Kernproblem der deutschen Einheit ist nicht die Ökonomie. Es ist eher kultureller Natur. In Wahrheit verstehen die Menschen in der ehemaligen DDR, daß der Übergang von der sozialistischen Planwirtschaft in die Marktwirtschaft sich nur mit Brüchen vollziehen kann. Der eigentliche Punkt ist: es wurde ihnen die — wie auch immer zu bewertende— Identität weggenommen, und sie haben nicht das Gefühl, sie könnten mitentscheiden, fühlen sich darum außen vor. Ökonomisch liegt der Unterschied darin, daß die Regierung besonders zu Anfang nach dem Prinzip der kreativen Zerstörung operiert hat. Was Konkurs geht, zeigt nur, daß es am Markt nicht bestehen kann. Das ist der Hauptgrund für die sozialen Spannungen. Die Frage ist, wie weit Politik eingreifen darf, um die wirtschaftliche Entwicklung dort zu steuern. Das ist der Punkt, an dem wir uns unterscheiden. Wir halten eine so gigantische Aufgabe ohne entschiedenes staatliches Eingreifen für nicht bewältigbar. Das war auch in Westdeutschland bei den großen Strukturkrisen, bei Werften, Kohle und Stahl, nicht anders.

Um das zu finanzieren, müßte die Ergänzungsabgabe in der Einkommenspyramide schon ziemlich weit runtergehen.

Ja, das haben wir vor der letzten Bundestagswahl aber schon gesagt: Steuererhöhungen müssen sein. Interview: Tissy Bruns

und Bernd Ullrich

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