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Politik der kurzen Wege

■ Der Verkehrsinfarkt in den Städten ist mit verkehrsverlagernden Maßnahmen allein nicht zu stoppen. Mittelfristig geht es um die Wiederannäherung von Produktion und Konsumtion

Der Verkehrsinfarkt in den Städten ist mit verkehrsverlagernden Maßnahmen allein nicht zu stoppen. Mittelfristig geht es um die Wiederannäherung von Produktion und Konsumtion. VON GERD ROSENKRANZ

I

n einer „Charta von Athen“ formulierte die internationale Versammlung progressiver Raumplaner ihr Bild von der Stadt der Zukunft. Eines der zentralen Anliegen: die räumliche Trennung der Lebensbereiche Wohnen und Arbeiten. Das war 1933.

Die Vision wurde Wirklichkeit. Heute kann sie besichtigt werden, in Athen, wo die Akropolis nach 2.500 Jahren unter einer dichten Dunstglocke zerfällt, und in den Großstädten dieser Welt, wo der ganz normale Verkehrsinfarkt den Tagesablauf von Milliarden Menschen prägt. Man ist unterwegs — meist zwischen Wohnen und Arbeiten.

„Damals machte der Vorschlag durchaus Sinn“, sagt Mario Schmidt vom Heidelberger Ifeu-Institut für Energie- und Umweltforschung. Die Vergiftung kam hauptsächlich aus den Schloten und Abflußrohren der Industriebetriebe, in deren unmittelbarer Nachbarschaft die Arbeiterfamilien in schwerbelasteten Siedlungen leben mußten. Heute pendeln die Berufstätigen zwischen immer entlegeneren Wohnquartieren und den längst zu Dienstleistungs- und Behördenzentren mutierten Innenstädten oder Gewerbegebieten auf der grünen Wiese.

Das Schlagwort lautet Verkehrsvermeidung

Das Konzept der „autogerechten Stadt“, mit dem Generationen von Verkehrspolitikern dem explodierenden Individualverkehr bis in die jüngste Vergangenheit versuchten Herr zu werden, ist grandios gescheitert. Statt die Staus aufzulösen, machte die fortschreitende Versiegelung der Städte die Verkehrslawine erst möglich. Die Zersiedelung der Städte und ihres Umlands nahm zu, wie der motorisierte Individualverkehr. Die Umkehrung dieses Prozesses, darüber sind sich Verkehrswissenschaftler und Stadtplaner einig, ist eine Herkulesaufgabe.

Dabei haben sogenannte Mobilitätsstudien ergeben, daß sich Otto Normalverkehrsteilnehmer heute keineswegs öfter auf den Weg zur Arbeit, zum Einkaufen oder zum Freizeitspaß macht als vor dreißig Jahren. 1962 legten die Bundesbürger (West) etwa 16,7 Milliarden Wege mit dem Auto zurück, 1990 war diese Zahl auf 33,5 Milliarden angeschwollen, bei gleichzeitig praktisch unverändertem öffentlichen Personenverkehr. Der Verkehrswissenschaftler Rudolf Petersen vom Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt, Energie schließt daraus, „daß durch das Auto in großem Umfang Fuß- und Radwege ersetzt worden sind“. Zeitersparnis allerdings brachte der Umstieg nicht. Damals wie heute — manche Mobilitätsforscher meinen schon seit Jahrhunderten — waren und sind die Menschen durchschnittlich immer gleich lange unterwegs: etwa 70 Minuten pro Werktag. Nur die Geschwindigkeit und damit der Radius haben sich stetig vergrößert.

„Verkehrsvermeidung“ lautet das Schlagwort, das neuerdings die Debatten auch unter den von Treibhauseffekt, Ozonbelastung und Bürgerprotesten aufgeschreckten Politikern bestimmt. Schmidt allerdings fürchtet, daß ähnliches geschieht wie zuvor schon mit der Müllproblematik: „Die Politiker reden von Vermeidung und meinen Verwertung oder Verbrennung, beim Verkehr sprechen sie von Vermeidung, haben aber Verlagerung im Kopf.“

In der bisher aufwendigsten Studie zur lokalen Reduktion des Treibhausgases Kohlendioxid, die das Ifeu- Institut gerade für die Stadt Heidelberg ausgearbeitet hat, werden sämtliche derzeit in den Großstädten diskutierten Vorschläge zur Eindämmung der Autolawine ausgeleuchtet: Die Verteuerung und Reduzierung der Parkmöglichkeiten in den Städten bei gleichzeitiger Attraktivitätssteigerung des Öffentlichen Personennahverkehrs und Ausbau der Fußgängerzonen und des Radwegenetzes. Ebenso Mautgebühren, Nahverkehrsabgabe, Geschwindigkeitsbeschränkungen, Umweltampeln, an denen der Motor abgeschaltet werden muß. Kurz: das ganze Quäl-Arsenal, mit dem unverbesserliche Automane künftig werden leben müssen.

Alle diese Maßnahmen, sagt Schmidt, können, in vernünftiger Kombination eingesetzt, nützlich sein, aber sie zielen sämtlich auf Verkehrsverlagerung, nicht -vermeidung. Der Politikwissenschaftler Peter Cornelius Mayer-Tasch spricht denn auch von einer „ersten Etappe der unmittelbaren Not-Wende“, einer Phase der „verkehrspolitischen Mäßigung“.

Tatsächlich können mindestens die in der Klimadiskussion zur Debatte stehenden erheblichen Schadstoffreduktionen auf diesem Weg allein nicht bewältigt werden. Schlappe acht Prozent CO2-Minderung im Bereich Verkehr erhoffen sich die Wissenschaftler für Heidelberg, wenn alle vorgeschlagenen Maßnahmen umgesetzt werden.

Wer Straßen sät, will Verkehr ernten

Der öffentliche Nahverkehr, geben die Ifeu-Wissenschaftler in ihrer Heidelberg-Studie zu bedenken, „ist unter Umweltgesichtspunkten nur die drittbeste Lösung nach Mobilitätsverringerung und nichtmotorisiertem Verkehr“ — sprich: Fahrrad und per pedes. Auch Schnellbahnen fahren nicht ohne Energie, und die griffige Formel: „Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten“, gilt unter Umständen analog für neue S-Bahn-Trassen. München und Stuttgart bauten in den 70er und 80er Jahren ihre S-Bahn- Anbindungen an das Umland kräftig aus. Ergebnis: Neuer Verkehr wurde induziert, weil die Menschen nun öfter in der City einkaufen oder dort ihre Kneipentouren machen. Außerdem entstanden neue Wohnungen entlang der Gleise, die Zersiedelung bekam einen neuen Schub.

Natürlich hängt die Explosion insbesondere des Freizeitverkehrs auch mit wachsenden Einkommen und schrumpfenden Arbeitszeiten zusammen. Längst halten es die Verkehrswissenschaftler für unangemessen, den Politikern allein die Schuld an der Misere zuzuschieben. Mario Schmidt: „Es stellt sich die grundsätzliche Frage nach unserer Definition von Wohlstand.“

In der Heidelberg-Studie ermittelte das Ifeu-Institut einen klaren Zusammenhang zwischen der „Nutzungsmischung“ — das ist grob vereinfacht das Verhältnis von Wohn-, Arbeits- und Freizeitangeboten im jeweiligen Stadtviertel — und dem Verkehrsaufkommen. Je ausgewogener die Mischung, um so geringer der motorisierte Verkehr. Doch „gewachsene Stadtteile kann man kaum planen“, meint Schmidt, „man kann nur versuchen, durch eine gezielte Liegenschaftspolitik zu retten, was noch da ist.“ Ein praktischer Versuch der Rückkehr zur „Politik der kurzen Wege“ ist in Heidelberg mittlerweile angelaufen: Behörden sollen, soweit irgend möglich, aus der City in kleinere „Bürgerämter“ in den Stadtteilen zurückverlegt werden.

„Der Königsweg der Verkehrspolitik“, sagt Mayer-Tasch, „ist der Weg der Wiederannäherung von Produktion und Konsumtion.“ Ein schöner Traum: In den neuen Bundesländern passiert genau das Gegenteil. Überall wachsen riesige Ladenstädte — auf der grünen Wiese.

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