: Ein kommunistisches Disneyland
Zerstörungswut oder Selbstbefreiung? Wie man über den Umgang mit den historischen Denkmälern in Sankt Petersburg und anderswo diskutiert ■ Von Birgit Ziegenhagen
Imperativ sind sie alle — die erstarrten Lenins, Marx, Stalins und Dserschinskis, die Zaren, Großfürsten, Feldherren und Helden der Revolution. Selten weiblichen Geschlechts und „für die Ewigkeit“ gebaut, verkünden sie : Du sollst dich erinnern— an meine Stärke, an meinen Mut, an meine Weisheit. Ich bin dein Vorbild. Denkmäler in ihrer Epoche.
Doch ob im alten Rußland oder der inzwischen zerfallenen UdSSR errichtet, ihr Schicksal war schon zu Bauzeiten vorherbestimmt: Immer wenn eine Macht zerfiel, dann fielen unweigerlich auch ihre Denkmäler. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Auch in Sankt Petersburg, dem ehemaligen Leningrad, soll der Mann, der der Stadt einst ihren Namen gab, fast vollständig aus dem Straßenbild verschwinden — allerdings möglichst ohne Aufsehen erregende Happenings wie bei der Demontage des „Eisernen Felix“, des Gründers des sowjetischen Geheimdienstes, Dserschinski, in Moskau. Um spontanen Zerstörungsaktionen zuvorzukommen, untersucht bereits seit einem knappen Jahr eine vom St. Petersburger Sowjet und der Stadtregierung ernannte Kommission von ExpertInnen, ob und welche der insgesamt 124 öffentlichen Lenin- Denkmäler erhalten bleiben sollen. Das Schicksal der unzähligen Büsten, Reliefs und kleineren Statuen, die zu Hunderten alle öffentlichen Gebäude „zieren“, ist ohnehin besiegelt. Sie werden allesamt auf dem Müllhaufen der sowjetischen Geschichte landen. Etwas differenzierter ist dagegen das mit „künstlerischen Gesichtspunkten“ begründete und jetzt verkündete Ergebnis der ExpertInnenkommission: Von den insgesamt 124 öffentlichen Lenin-Denkmälern bleiben acht verschont. Statuen aus wertvollen Materialien, wie Marmor oder Granit, verschwinden vorläufig im städtischen Skulpturenmuseum des Alexander-Newski-Klosters. Der Rest wird vernichtet oder für „harte Währung“ ins Ausland verkauft.
Was macht ein Leben mit dem einst „ruhmvollen Führer der Sowjetunion“ heute für die St. Petersburger so unerträglich? Ist es die Erinnerung an die insgesamt 128.010 Verhafteten, 9.559 Geiseln und 9.641 Erschossenen aus der Zeit des roten Terrors zwischen 1918 und 1919 (die Zahlen stammen aus Isaak Steinbergs „Gewalt und Terror in der Revolution“)? Oder eher die eigene Rolle, die viele Leningrader in den letzten 70 Jahren Sowjetmacht spielten? Der Moskauer Ethnosoziologe Gassan Gussejnow, der zur Zeit an der Bremer Universität die Phänomene des Wandels in der Ex-Sowjetunion erforscht, glaubt, daß die Vernichtung von Denkmälern in erster Linie Ausgleich für angestaute Unzufriedenheit ist: „Die Revolution 1917 wurde von den Leuten selbst angezettelt, man hat den alten Machthabern die Macht entreißen müssen. Bei der Perestroika war das ganz anders. Die Freiheit war sozusagen ein Geschenk von Gorbatschow an die fast 300 Millionen Einwohner unseres Landes. Der über Jahrzehnte angestaute Haß gegen das Regime, der mit ganz bestimmten Personen verbunden war, konnte sich nicht entladen. Deshalb ist auch die Zerstörung der Denkmäler eine Art Kompensation für die Unzufriedenheit darüber, daß wir die jetzige Freiheit praktisch geschenkt bekamen.“ In öffentlichen Aktionen, aber auch bei der von oben verordneten Demontage, so Gussejnow, würden die Leute nun Zeichen setzen wollen, um auch ihre neue, „innere Freiheit“ unter Beweis zu stellen. „Indem die Bevölkerung in Form von konkreten Dingen ihre jüngste Vergangenheit zerstört, versucht sie einfach aus der Geschichte herauszuspringen.“
Mit dem „Sprung aus der eigenen Geschichte“ ist es eh nicht weit her. Das zeigen die jüngsten Diskussionen über die neuen Symbole: Da streitet man sich um das „richtige“ Wappen einer Stadt, die „ursprünglichste“ Form einer Staatsflagge und die „wahren“ Wurzeln eines Volkes. Das Ergebnis der Suche nach neuen Vorbildern und Orientierung: archaische Figuren wie der drachentötende Reiter Georgie Pobedonosez, das Symbol der Moskauer Fürsten, oder der zweiköpfige Adler, Sinnbild des russischen Zarentums im 15. Jahrhundert, werden wieder hervorgekramt, um der heutigen Generation als Identitätsstifter zu dienen. Noch immer ist eine neue Orientierungshilfe für die meisten wichtiger als die Frage: Inwieweit habe ich selbst staatstragende Funktionen, bewußt oder unbewußt, übernommen? Dazu Gussejnow: „Das Kult- Denken, das Denken, daß es etwas Höheres als die individuelle Persönlichkeit gibt, als die persönliche Freiheit, also der Kult der Staatlichkeit, ihrer Heiligkeit, all das ist geblieben. Nur, um einem neuen Kult Platz zu machen, müssen die Steine des alten zerstört werden.“ Ein Grund dafür sei auch das allgemeine Gefühl der Verlorenheit und die geistige Leere, die nach dem Zerfall der UdSSR zurückbleibe, so Gussejnow. Andererseits schmerze die meisten der Verlust „ihres“ Kultgegenstandes. „Jetzt will man schnell einen neuen Gegenstand finden, der den alten gleichwertig ersetzen kann.“
Allerdings kann man das Zerstören und Neubauen von Denkmälern auch als einen „notwendigen Gesundungsprozeß“ für die von der Sowjetmacht geknechtete Bevölkerung begreifen. So beobachtet zum Beispiel der St. Petersburger Architekt und Maler Dmitrij Chmelnizkij die Demontage von Sowjetdenkmälern mit einer gewissen Genugtuung. Seit etwa vier Jahren reist er zwischen seiner Geburtsstadt und Berlin hin und her — immer auf der Suche nach finanzkräftigen Investoren, die dazu beitragen könnten, St. Petersburg vor dem drohenden Zerfall zu retten. „Echte Denkmäler der Revolution gibt es nur sehr wenige“, sagt er. „Die sowjetischen Städte, wie Moskau und Leningrad, sind voll von Denkmälern, die in den letzten 25 Jahren gebaut wurden. Das ist reine Propaganda, sie haben nicht den geringsten künstlerischen Wert.“ Für die Mehrheit der heutigen Statuen könne man, so Chmelnizkij, deshalb den Begriff „historisches Denkmal“ überhaupt nicht anwenden: „Das ist eine Frage der Qualität. Die meisten der Skulpturen sind einfach Pfusch. Da wurde der Plan für den Bau von Denkmälern erfüllt, sonst nichts. Entsprechend schrecklich sehen die Dinger auch aus.“ Auch all das, was nach dem Krieg unter Stalin entstand, so Chmelnizkij, sollte vernichtet werden. Einerseits handele es sich dabei um „faschistische Symbole“ wie die überdimensionale Volksmutter des Sieges bei Wolgograd (früher Stalingrad). Andererseits sei der Bau solcher Denkmäler auch immer mit Angriffen auf die inoffizielle Kunst, die stets neben dem sozialistischen Realismus existierte, verbunden gewesen: „Wenn wir das Land verändern wollen, dann müssen wir doch alles tun, daß die Leute darin besser leben als vorher. Ich zum Beispiel könnte nicht mehr an einem Platz leben, wo Lenin steht.“
Während Gassan Gussejnow dafür plädiert, der Zerstörung als einem Angriff auf die eigene Psyche entgegenzutreten, sieht Dmitrij Chmelnizkij hier keine Gefahr — eher Selbstbefreiung: „Wenn jemand etwas Schreckliches sieht, dann will er das natürlich zuerst zerstören. Und wenn es dann einen leeren Platz gibt, dann wird er darüber nachdenken, was man an diese Stelle stellen kann.“
Nachgedacht wird tatsächlich schon eifrig. So wächst einerseits, angesichts der drohenden Versorgungskatastrophe und der Verarmung großer Bevölkerungsteile, die nostalgische Sehnsucht nach der großen „Vaterfigur“ Stalins. Andererseits machte vor einigen Wochen in der russischen Presse das Gerücht die Runde, es existierten bereits Pläne, für den neuen „starken Mann“, den russischen Präsidenten Boris Jelzin, ein Denkmal zu errichten. In der Westukraine versuchte man es mit einer anderen „Führerfigur“. Stepan Bandera, der Führer der ukrainischen Nationalbewegung, wurde auf einen Sockel gehievt. Doch auch er sollte nicht lange in der Höhe weilen. Schnell fanden sich politische Gegner, die das Denkmal über Nacht sprengten.
Das grundlegende Problem der kommenden GUS-Jahre wird offensichtlich weniger die hartnäckige Treue einiger zum Kommunismus sein, sondern die Demontage des „Homo sovieticus“. „Viele moralische Begriffe — Ehre, Anstand, Wahrhaftigkeit — sind fast völlig aus dem Leben verdrängt worden und durch falsche Normen, wie die Liebe zur Partei, zu den Führern, zu den Ideen, zum Pseudofortschritt, zum Internationalismus, zu Tonnen von Eisen und Stahl, ersetzt worden“, schreibt der russische Publizist Wjatscheslaw Kostikow.
Doch was tut man solange, bis endlich auch die Köpfe der Menschen freier sind, mit den allgegenwertigen Überbleibseln des alten Regimes? Das fragte sich vor kurzem auch die St. Petersburger Journalistin Tatjana Tolstaja in einer Sendung von Radio Liberty. Ihr pragmatischer Vorschlag: „Wenn sich der Rummel um die Denkmäler wieder gelegt hat, wäre es interessant, alle über unser Land verstreuten Idole in einem Park, einer Art kommunistischem Disneyland, zu versammeln. Vielleicht täte es auch ein Fotoalbum. Für die Liebhaber von Kitsch wäre es sicher eine Bereicherung.“
Bevor wieder neue HeldInnen auf die inzwischen leeren Sockel gehievt werden, könnte man es aber auch so machen wie die Jerewaner. Sie haben beschlossen, daß ein kleiner, alter Blumenverkäufer, ein Stadtoriginal, das in der armenischen Hauptstadt jeder kannte, nicht vergessen werden soll. Der Mann verstand wenig von „wirklichen Geschäften“, wie sie heute fast an jeder Straßenecke abgeschlossen werden. Er verschenkte am liebsten seine roten Nelken und Rosen an hübsche Frauen, gleich welcher Nationalität. Jetzt bekommt er von den PassantInnen zum Dank dafür täglich Blumen in sein steinernes Körbchen. Ein Denkmal für einen Menschen — nach den Denkmälern für all die Unmenschen.
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