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Das Multimedia-Loch

„Erdsicht — Global Change“ in Bonn  ■ Von Jochen Becker

Die Bonner nennen sie Bundeskunsthalle. Korrekterweise heißt der jüngste Baustein einer ambitionierten „Kunstmeile“ „Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH“. Hier wird also nicht nur Kunst gezeigt, sondern auch — unspezifiziert — anderes. Unter den fünf Eröffnungsausstellungen fällt die Präsentation „Erdsicht — Global Change“ aus dem Rahmen: Das Bild von der Erde ist kein Gemälde, sondern ein zur besseren Datenauswertung digital „eingefärbtes“, Satellitenphoto. Die Ästhetik steht hier ganz im Dienste der Informationsvermittlung.

„Erdsicht — Global Change“, ein merkwürdiger Bastard, wurde entwickelt von einer Zweckgemeinschaft ungleicher Partner. Kunstkuratorin Edith Decker betreute bislang die Ausstellungen „Video-Skulptur“ im Kölnischen Kunstverein und „Vom Verschwinden der Ferne“ im Frankfurter Postmuseum; die Wissenschaftspublizisten Annagreta und Eric Dyring aus Schweden arbeiteten beide langjährig in Forschung und Lehre. Im Sinne moderner Partnerschaft erhält das gemeinsame Kind den Doppelnamen „Erdsicht — Global Change“. Fortan führt das Bindestrichgeschöpf zwischen Anschauungsmaterial und wissenschaftlichem Text ein gespaltenes Leben; „Parallelpublikation“ (Katalog) und Ausstellung haben bis auf wenige Weltraumfotos keinerlei Überschneidung.

Böse Zungen behaupten, die Ausstellung sei eine Werbeveranstaltung der vor allem an Legitimation notleidenden Raumfahrtindustrie. Die Deutsche Agentur für Raumfahrtangelegenheiten (DARA) und die European Space Agency (ESA) standen dem Vorhaben als „äußerst kompetente Partner“ zur Seite, während die Deutsche Forschungsanstalt für Luft- und Raumfahrttechnik (DLR) „einen Teil der Exponate realisierte“. Sogar das „Herzstück der Ausstellung“, die interaktive Bildplattenpräsentation „Global Change“, steuerte die DLR bei: Zur angeheuerten Stimme von Hans-Joachim Friedrichs und zu Peter Gabriels Soundtrack spulen sich auf Fingerdruck und über drei Videoleinwände „Umweltveränderungen aus 12 Regionen“ ab: Planktonblüte und gerodeter Regenwald, Pinatubo und Aralsee. Der Golfkrieg wird unter „Umweltveränderungen“ informationstechnisch abgewickelt — inklusive ölverklebter Vögel und brennender Förderanlagen.

Alles hier wirkt kostspielig und ist in blaues Neonlicht getaucht; selbst die obligaten Feuchtigkeitsmelder sehen schicker aus als anderswo. Mit Ausnahme von Ingo Günters wissenschaftsgeographischer Leuchtglobeninstallation und einer nüchternen Computeranimation über die Bevölkerungsexplosion seit Christi Geburt zielt die Ausstellung auf den Fantasialand-Trieb des Besuchers: Bewegte Äste eines Schaumstoff-Rebstocks verenden unter Trockeneisnebel zu Volksmusik und Lightshow*; das Ozonloch erscheint als Glasfaser-Leuchtskulptur; die Rüstungspotentiale werden durch Eisenwaren (langer Nagel = Kommandozentrale, große Schraube = Raketenbasis, Unterlegscheibe = Kernreaktor) auf einer angerosteten Weltkarte dargestellt. Eine Muzak-umgarnte Diashow auf drei planetaren Kreisflächen torpediert den Gast mit „die Erde — der blaue Planet“, „unser Lebensraum — die Biosphäre“ oder der taufrischen Erkenntnis, daß 70Prozent der Erdoberfläche aus Wasser besteht.

Die Ausstellung (im Auftrag der Bundesregierung) stuft die Mehrheit ihrer Besucher (Wähler) als schlichte Gemüter ein. Während das Fußvolk mit redundanten Spielereien abgespeist wird, bietet der Katalog dem „kritischen“ Bildungsbürger geistige Vollwertkost an. Die zweihundert Seiten starke und mit Farbaufnahmen aus dem Weltraum angereicherte Publikation berichtet beispielsweise von einer „Bibliothek von Referenzdaten“, in der die auf unterschiedlichsten Wellenlängen abgetastete Erdoberfläche abgelegt wird. Anschließend vergleicht man die Daten mit den ground truth vor Ort und erhält so den „spektralen Fingerabdruck“ für bestimmte Vegetationsformen oder geologische Beschaffenheiten. Stößt der Auswertungscomputer anderswo auf vergleichbare Daten, kann automatisch die „ökologische Kartierung“ eines vorher unspezifizierten Gebietes vorgenommen werden.

Waldbestandskartierung und Subventionsschwindel beim EG- Weinbau, Versteppung oder Stadtentwicklung sind nur einige Bereiche der Fernerkundung. Im Katalog findet sich die Luftaufnahme des sowjetischen Truppenübungsplatzes Letzlinger Heide, dekorativ zerfurcht von Panzerspuren. Ausgerechnet ein sowjetischer Satellitenbetreiber verkaufte anfragenden Ökologen das bis auf fünf Meter genau auflösende Weltraumfoto. Die Münchener „Rück-Versicherung“ finanziert ebenfalls weltraumgestützte Untersuchungen: So mehren sich durch die ozonlochbedingte Klimaverschiebung nicht nur Funde in abschmelzenden Alpengletschern (der „Ötzi“), sondern vor allem kostspielige Orkane (die „Wiebke“). Weiterhin erfährt man aus dem Katalog, daß Buchen mit einer durchschnittlichen Wandergeschwindigkeit von 20 Kilometern pro Jahrhundert bei einer bis auf 1.000 Kilometer pro Jahrhundert beschleunigten Klimaverschiebung nicht mehr mithalten können. Andererseits gedeihen bei zunehmender Wärme und Kohlendioxidkonzentration viele Nutzpflanzen hierzulande besser.

„Keine Regierung der Welt erkennt Öko-Flüchtlinge an“, skizzieren Hartmut Graßl und Reiner Klingholz ein Thema der nahen Zukunft. Der Katalog demonstriert also nicht nur, „wie die Erde entblößt wird“ (Eric Dyring); hier ist endlich Platz für die Politik- und Wissenschaftskritik, die in der fröhlichen Ausstellung gänzlich fehlt.

David Parnas — er kündigte frühzeitig seinen SDI-Beratervertrag — warnt vor der wachsenden Kontrolle der Wissenschaftspolitik und plädiert deshalb für die konsequente wissenschaftliche Beratung der Öffentlichkeit, um ein Gegengewicht zu Expertenkommissionen im politischen Dienst zu gewinnen. Aber auch die akademische Praxis entmutige neue Formen „öffentlicher Weiterbildungsprogramme“: „Ein Artikel in einer Tageszeitung zählt nicht. Ein Erscheinen in einem Fernsehbeitrag über Nuklearsicherheit oder Umweltverschmutzung zählt nicht. An den Universitäten zählen einzig und allein die Anzahl der in Fachpublikationen und auf Konferenzen referierten Papiere.“

Anschaulich gestaltet und in wirkungsvoller Nähe zur Bonner Politik hätte die Veranstaltung ein „öffentliches Weiterbildungsprogramm“ ganz im Sinne von David Parnas entwerfen können: Hier wäre der passende Ort, um die Grenzen von Expertentum (Alltagswissen versus Kunsthistoriker versus Naturwissenschaftler) und Genre (Kunst- versus Wissenschaftsmuseum) zu überbrücken. Immerhin sollen allein für diese Schau fünf Millionen Mark zur Verfügung gestanden haben. Die Ausstellungsleitung muß bei ihren Vorbereitungen den Text von Parnas wohl übersehen haben.

Noch bis zum 14. Februar 1993. In der Kunst- und Ausstellungshalle findet am 12./13. November die öffentliche Konferenz „Atmosphäre im Wandel“ statt. Katalog: Gerd Hatje-Verlag.

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