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»Die nationalistischen Kräfte kochen über«

■ Seit gestern findet an der TU mit viel wissenschaftlicher Prominenz die größte deutsche Konferenz zum Antisemitismus in Europa statt

Charlottenburg. Das Abstimmungsdebakel der Franzosen zum Maastricht-Vertrag war schuld, daß die Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth gestern nachmittag nicht die Internationale Konferenz über »Antisemitismus in Europa« eröffnen konnte. Dies ließ sie jedenfalls mit den üblichen bedauernden Floskeln die etwa 300 Teilnehmer wissen, die mit Sektglas in der Hand auf den einzigen angekündigten Politik-Repräsentanten warteten. »Als ob Maastricht vom Himmel gefallen wäre«, kommentierte ein israelischer Journalist die Absage. Ärgerlich an diesem Vorgang ist nicht der fehlende Segen der Bundesregierung. Ärgerlich ist, daß die ganze Tagung ohne jegliche finanzielle Unterstützung aus Bonn durchgeführt und trotzdem Frau Süssmuth zuliebe auf zweieinhalb Tage zusammengedrängt wurde. Denn das Programm ist auch ohne Empfänge mehr als überbordend.

Seit gestern und bis Mittwoch abend findet in den Räumen der Technischen Universität die größte Konferenz zum Thema moderner Antisemitismus statt, die in Deutschland je organisiert wurde. Zwei Jahre lang liefen die Vorbereitungen der Gastgeber, des Instituts für Antisemitismusforschung unter der Leitung von Wolfgang Benz an der TU, des Institute of Jewish Affairs in London und des Jerusalemer Pendants, des Vidal Sassoon International Center for the Study of Antisemitism. Bei Beginn der Planungen war noch nicht abzusehen, daß die Sowjetunion, wie Benz staunte, »einfach so zusammenbricht«. Die Planung hat dies allerdings nicht erleichert. Nicht Rußland bescherte jetzt den russischen Teilnehmern Visaprobleme, sondern die Bundesregierung. »Wenn irgend jemand wissen sollte, wie man Besuchervisa um drei Tage verlängert«, beschwor Benz potentielle Experten, »sollen die sich melden.«

Der virulente Antisemitismus in Rußland und in den sich bildenden Nationalstaaten wird auch Schwerpunkt dieser Tagung sein. In seinem vom Redemanuskript stark abweichenden Eröffnungsvortrag analysierte Jehuda Bauer aus Jerusalem, daß es zwischen den orthodoxen Kommunisten und den radikalen Rechten im Osten eine antisemitische Allianz gebe, die einen demokratischen Prozeß gefährde. »Der Deckel vom Dampftopf ist genommen, und die nationalistischen Kräfte kochen über.« Wie vor 70 Jahren bedienten sich die Ideologen der chauvinistischen Theorie, wonach die russisch-ethnischen Gruppen anderen Völkern überlegen seien und ganz überlegen den Juden.

Aber nicht nur die Entwicklung in den ehemaligen sowjetischen Staaten und ihrer Verbündeten in Polen, der Tschechoslowakei, Rumänien und Ungarn wird auf dieser Tagung besprochen werden, sondern auch der Zusammenhang zwischen Fremdenfeindlichkeit, Diskriminierung von Minderheiten und Antisemitismus. Wolfgang Benz ist überzeugt davon, daß der Antisemitismus heute nicht nur als Vorurteil gegen Juden formuliert werden kann, sondern daß er eine »Chiffre für antiaufklärerischen Eifer, für die Lust an der Verschwörung und Intrige und für die Zerstörung von Vernunft und Realität« sei. Die »Scharfmacher in Maßanzügen« würden auch in Deutschland gegen die Juden hetzen, wenn dies nicht per Grundgesetz verboten wäre. In die gleiche Kerbe hieb Mordechay Lewy, Generalkonsul des Staates Israel in Berlin. Er forderte die Wissenschaftler auf, nicht bei der Analyse stehenzubleiben, sondern Handlungsoptionen für die Politik zu entwickeln. Anita Kugler

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