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Die Uhren sind Lügner

Die Zeit ist antizyklisch: Roman Opalka und seine Zahlenbilder — eine Ausstellung in Paris  ■ Von Stefan Koldehoff

Wer zur Zeit den großen Ausstellungssaal im Musée d'art moderne de la Ville de Paris betritt, fühlt sich als störender Eindringling. Weiße Stille umfängt jeden Besucher. An der halbkreisförmig geschwungenen Hauptwand des großzügigen Raumes hängen nebeneinander hochformatige Leinwände der immer gleichen Größe von 196 mal 135 Zentimetern. Sie scheinen mit einem regelmäßigen Muster überzogen.

Die gegenüberliegende Wand zeigt ebensooft das fotografische Porträt eines weißhaarigen Mannes im weißen Hemd mit offenem Kragen. Ausdruckslos blickt er starr geradeaus. Der Bildausschnitt bleibt unverändert, das Gesicht des Mannes aber altert von Fotografie zu Fotografie.

Aus kleinen Lautsprechern kommen flüsternde Töne in einer fremd klingenden Sprache, die in ihrem beschwörenden Rhythmus die Stille nicht zerstören. Im Gegenteil: auch sie scheinen Bestandteil eines Rituals zu sein, das im Museum abläuft, und nur zögernd trauen sich die MuseumsbesucherInnen tatsächlich, die Ausstellung zu betreten.

Nur wer sich schließlich doch näher an die großen Leinwände heranwagt, erkennt, was auf ihnen geschehen ist. 1965 begann der damals 34jährige polnische Künstler Roman Opalka mit seinem lebensfüllenden Projekt „Opalka 1965/1 — unendlich“. Mit feinem Pinsel und weißer Acrylfarbe beschrieb er in engen Zeilen eine schwarz grundierte Leinwand mit fortlaufenden Zahlen.

Bei der Zahl 1 begann diese erste der von Opalka „Détails“ genannten Leinwände, bei der Zahl 35327 endete der erste Teil seines Projektes sieben Monate später — und das erste der fotografischen Selbstporträts entstand. Mit rund 20.000 fortlaufenden Zahlen füllt Opalka seither in seinem Haus im französischen Bazerac Leinwand um Leinwand und flüstert dabei in seiner polnischen Muttersprache die Zahlen auf das stets mitlaufende Tonband. Fünf bis sechs Bilder entstehen so in jedem Jahr.

Die Unwiederbringlichkeit der Wiederkehr alles Vergangenen will der Künstler damit dokumentieren. Uhren, die im Kreislauf ihrer Zeiger einen immer wiederkehrenden zeitlichen Zyklus suggerieren, hält er für Lügner: Die Zeit ist antizyklisch. Das mit einer hinter der Staffelei fest installierten Kamera stets gleich fotografierte eigene Gesicht und seine ständige Veränderung durch den biologischen Alterungsprozeß dienen Opalka dabei als Bestätigung seiner Zeittheorie: Die Fertigstellung jedes Détails endet mit einer Aufnahme.

Am 1.September 1973 überschritt Opalka auf einer seiner Leinwände die Millionengrenze. Seither hellt er die Grundierung seiner Leinwände bei jedem neuen Bild um jeweils ein Prozent auf. Ab der hundersten Tafel wird er seine feinen weißen Zahlen auf weißen Untergrund schreiben.

Die sichtbaren Ergebnisse seiner Arbeit mit der Zeit haben dann keine Bedeutung mehr. 27 Jahre dauert diese Arbeit inzwiscxhen, ihre Détails hängen mittlerweile in den großen Museen der Welt. Mehr als zehn Jahre will Roman Opalka seinen Weg in Richtung Unendlichkeit noch fortsetzen. Dann etwa hofft er, die Zahl 7777777 erreicht zu haben. Die auf Leinwand festgehaltenen Détails der Zeit werden hier enden, obwohl das Projekt selbst kein Ende haben kann.

Unzählige Pinsel der englischen Marke Rowney S 40 Kolinsky Sable liegen in der Pariser Ausstellung, die ab November auch in München zu sehen sein wird, fein säuberlich in einer Vitrine nebeneinander. Jeder einzelne von ihnen trägt ebenfalls zwei Opalka-Zahlen als authentischen Nachweis seiner Verwendung: 2409347 — 2430580 bedeutet dann, daß der Pinsel für das entsprechende Détail eingesetzt wurde. Als Archivar der vergangenen Zeit führt Roman Opalka sein Archiv der Unendlichkeit mit konkreter Genauigkeit.

Roman Opalka, „Opalka 1965/1 — unendlich“

Musée d'art moderne de la Ville de Paris, noch bis 4.Oktober1992

Städtische Galerie im Lenbachhaus, München, ab November 1992.

Katalog: 250 Seiten mit zahlreichen Farb- und s/w-Abbildungen, Editions Flammarion 4/La Hune Editeur, ca. 50 DM.

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