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Wohin treibt Deutschland

■ Spontane Trauerfeier im ehemaligen KZ Sachsenhausen: 350 Menschen kamen

Berlin/Oranienburg. Ganz nahe vor den verkohlten Resten der sogenannten jüdischen Baracke im ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausen stand gestern Alisa Fuss, Präsidentin der Internationalen Liga für Menschenrechte und Mitglied in der von der Gemeinde unabhängigen »Jüdischen Gruppe«. Als die Nachricht des Brandes sie erreichte, hatte sie sofort einen Autokonvoi organisiert, um in der Gedenkstätte zu trauern und zu warnen. »Die Wunden sind nicht vernarbt«, sagte sie im Kreis von etwa 350 Menschen, »nein, ätzende Säure wird hineingeschüttet.« Weil antisemitische Anschläge, wie kürzlich auf das Denkmal für die in den Tod deportierten Berliner Juden auf der Putlitzbrücke oder die Friedhofsschändung in Weißensee, und Gewalt gegen Asylbewerber für Alisa Fuss die gleiche rassistische Tradition haben, benannte sie in ihrer Rede auch die »Biedermänner«, die die »Brandstifter« zum Handeln treiben. »Sie sitzen im Parlament, zündeln kräftig und halten durch augenzwinkerndes Einverständnis die Brandherde am Schwelen«, sagte sie. Und sie ruft: »Wir wollen kein Viertes Reich, wir Juden wollen nicht mehr die Boten des Unglücks sein, die wir gezwungenermaßen jahrhundertelang waren.«

Zum Mahnruf an die verbrannte Stätte gekommen waren auch Mitglieder diverser antirassistischer Organisationen, Helfer der Beratungsstelle für ausländische Flüchtlinge und Mitglieder der orthodoxen jüdischen Gemeinde »Adass Jisroel«. Der Brandanschlag — und daß es einer war, schließt selbst die Polizei nicht mehr aus — »ist ein weiterer Angriff auf das Andenken ermordeter und auf das Sicherheitsgefühl lebender Juden in Deutschland«, sagte Gemeindesprecher Mario Offenberg. Er sei ein Versuch, »die blutige Vergangenheit vollständig zu tilgen«. Und zum Abschluß der Kundgebung sang der Kantor von Adass Jisroel das Totenlied mit dem Gedenken an die in den Konzentrationslagern ermordeten Menschen, das »El Male Rachamim«, zu deutsch »Der barmherzige Gott«.

Für die Kundgebung und Trauerfeier gestern war das Tor ausnahmsweise geöffnet worden. Am Samstag hingegen standen die vielen Menschen, die die Nachricht über den nächtlichen Brand im Radio gehört hatten und jetzt ihre Betroffenheit zeigen wollten, vor fest verrammelten Türen. Kein Politiker war da, nur völlig überforderte Pförtnerinnen, die bürokratisch reagierten, »kommen Sie Dienstag wieder«. Viele Menschen legten schweigend Blumen am Tor nieder. Nur einmal wurde es heftig. Ein älterer Oranienburger verdächtigte »Asylanten« des Anschlages. »Die wollen sich jetzt rächen«, sagte er. Vor dem Tor stand auch ein Fotograf einer internationalen Agentur. Rostock hat er fotografiert, Hoyerswerda, Wismar und andere Randalen auch. »Mein Gott«, sagt er, »ich habe es satt, Tag und Nacht schreckliche Bilder zu machen, wohin treibt Deutschland nur.« Anita Kugler

Siehe auch Seite 5

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