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Der Januskopf der Moderne

„1910 — Halbzeit der Moderne. Van de Velde, Behrens, Hoffmann und die Anderen“. Kunst-, Design- und Architekturtendenzen der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg  ■ Von Martin Kieren

Der Begriff der Moderne ist vielfach mißbraucht worden. Aber selbst diejenigen, die ihn in den Diskussionen immer wieder ins Feld geführt haben und noch ins Feld führen, sind nicht in der Lage, den eigentlichen Beginn dieser Moderne zu datieren, sich über die Zeichen, die sie angekündigt hat, zu einigen. Ob in der Malerei, der Dichtung, der Architektur — Datierungsschwierigkeiten, Abgrenzungsprobleme und Interpretationsbedarf. Mit der in der Münsteraner Ausstellung schon im Titel markierten „Halbzeit der Moderne“ werden diese Schwierigkeiten auch nicht behoben, sondern fortgeschrieben. Die von Kunsthistorikern und Philosophen ach so geliebte und geübte Kategorisierung bzw. Stilzuordnung versagt nämlich, wenn sie das Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg mit einem Begriff belegen und Assoziationen an bestimmte bildkünstlerische oder architektonische Werke wecken soll.

Das liegt an der Stilvielfalt. Und eben an den „Anderen“, die es immer gegeben hat. Zu allen vermeintlich gesicherten Stil- und Zeitepochen der letzten 200 Jahre gab es Künstler, die sich dem mainstream versagten; die sich zwar der hergebrachten Muster und Stile bedienten und an ihnen weiterarbeiteten, aber zugleich im Experiment mit neuen und aus dem Material entwickelten Formen über diese hinausgelangten.

Stilwandel

1910 also — bei dieser Jahreszahl, die den Ausstellungsmachern als Richtschnur diente, fallen dem Kenner ein: Ende des Jugendstils, Aufblühen des Kunstgewerbes, Entwicklung von Typen für die Serienproduktion, „Wiener Werkstätte“ und gerade gegründeter „Deutscher Werkbund“ — aber noch kein Expressionismus und keine später unter dem Begriff der Klassischen Moderne oder der Neuen Sachlichkeit zu summierende Malerei und Architektur, kein Bauhaus, keine Maschinenästhetik. Der Januskopf der Moderne schaut sich noch um.

Was ist also dran an dieser „Moderne“, was macht sie aus, wer hat sie wann begründet? — Spricht man über die Epoche des Jugendstils, fällt der Name van de Velde, spricht man über den „Deutschen Werkbund“, fällt der Name Peter Behrens. Für die „Klassische Moderne“, also die zwanziger Jahre, stehen die Namen Walter Gropius, Le Corbusier und Bruno Taut als Signum der Zeit. Hier aber, bei diesen Namen, bei der Nennung derjenigen, die sich mit ihren Werken in die Kunst- und Architekturgeschichte eingeschrieben haben, fängt die Schwierigkeit der Zuordnung schon an. Walter Gropius und Le Corbusier zum Beispiel arbeiteten vor dem Ersten Weltkrieg im Büro von Peter Behrens in Berlin. Das Bauhaus in Weimar, Inbegriff der Neuen Sachlichkeit und Maschinenästhetik — jedenfalls in den Dessauer Jahren ab 1928 —, ist hervorgegangen aus einer Schule, die vor dem Kriege von van de Velde aufgebaut und geleitet wurde. Alle Grenzziehungen haben also schon im Ansatz mit Schwierigkeiten der Abgrenzung bzw. den Überschneidungen der Generationen zu tun.

Die Kriterien, von denen sich die Ausstellungsmacher in Münster leiten ließen, sind daher zu Recht mehr an die Vielfalt der sichtbaren Erscheinungen geknüpft als an fertigen Begriffen. Sie lassen die Besucher im großen Bilderbuch eines Jahrzehnts blättern, lassen sie durch die Straßen und Städte der Zeit flanieren und sie eigenwillige Gebäude, Kino- Plakate, Werbung, Möbel und Geschirr betrachten. Der Besucher steht vor und in Bahnhöfen und sieht die großen Lokomotiven, um sich im nächsten Moment in einem bürgerlichen Speisezimmer wiederzufinden, in denen die Prototypen für die ersten Serienmöbel das Ambiente bilden. Die Ausstellungsmacher legen dem Besucher eine haptische Illustrierte vor in Form eines edlen Trödelmarktes, aus dem der Jäger der Moderne — der Sammler und „Kunstkenner“ — mit den Dingen konfrontiert wird, die zwischen den großen Namen liegen — dies aber, ohne diese Namen und ohne deren herausragende Rolle zu unterschlagen. Und erst so wird deutlich, daß es schon richtig ist, daß diese Epoche ohne Stilbezeichnung auskommen muß und auszukommen hat. Auch wenn es den Versuch des Ausstellungsinitiators Klaus-Jürgen Sembach gibt, eine „Stahlzeit“ auszumachen.

Die Anderen

Die „Anderen“. Gerade diese sind es, die mit ihren Werken in der Ausstellung überraschen. Da ist z. B. Paul Thiersch. Von ihm ist ein Landhaus von 1913 bei Niepoelzig in der Neumark — heute Polen — zu sehen: Ein Zwitter aus adaptiertem Klassizismus und vorweggenommener Postmoderne: streng und klar, aber doch alte Regeln verletzend und neue setzend. Der dazugehörige Bau, ein Kornspeicher, ist von ganz ausgefallenen Proportionen und von einer außergewöhnlichen, überraschenden und eigenwilligen Interpretation des Verhältnisses von Wand und Öffnung geprägt. Die „Moderne“ ist hier gleichsam auf die Spitze getrieben — die Verblüffung ist perfekt. In den achtziger Jahren in die postmodernen Ensembles der Berliner Ritter- oder Rauchstraße gestellt, hätte dieses Gebäude kaum jemanden bewogen, den Zeitpunkt des Entwurfes auf das Jahr 1913 zu datieren.

Zu nennen wären z. B. auch Hermann Billing und seine Kunsthalle in Mannheim, Ewald Figges Stadthalle in Hagen und San Micheli Wolkensteins Villa in Lankwitz/Berlin. All die gezeigten Bauten zeichnen sich durch den oben angesprochenen Übergangscharakter aus: Sie zehren einerseits von der herrschenden Monumentalität des Ästhetischen und andererseits von den Gestaltungsmöglichkeiten, die den neuen Materialien Eisen und Beton innewohnten. Sie variieren einerseits herkömmliche Entwurfs- und Gestaltungsmuster, liefern aber andererseits selbst neue Muster, indem sie den Formenkanon erweitern und bereichern. Einmal ist es affektierter Gestaltungswille, ein andermal wird die gefundene Form aus der Funktion des Gegenstandes bzw. des Gebäudetyps entwickelt — immer aber haftet den gezeigten Gebilden, Autos, Häusern und Alltagsgegenständen etwas Pathetisches, zugleich aber auch etwas Rührend-Monumentales an.

Neben den oben genannten Beispielen läßt sich diese Haltung noch heute an einer Reihe von Gebäuden auch in Berlin nachvollziehen: Sei es an den U-Bahnhöfen von Alfred Grenander, dem Hebbel-Theater von Oskar Kaufmann oder der Turbinenhalle von Peter Behrens in Moabit. In allen Städten finden sich noch Spuren dieses Geistes, dieser Haltung, dieser Zeit. Zwischen all den Ausstellungsstücken in Münster aber liegt — seltsam ruhig in einer Vitrine — der anonym gestaltete Deutsche Stahlhelm von 1915: schlicht, glatt, funktionell und der Blechfransen und der goldglänzenden Pickelspitze beraubt. Diese Vitrine rührt einen an. Ein Zeitalter verabschiedet sich. Und das — jedenfalls in dieser Ausstellung — ganz unprätentiös. Es ist die vibrierende, sirrende, laute und schnelle Großstadt, die sich vor unseren Augen hier in Münster abschiedswinkend entfaltet — die Stadt, deren angestaute und in der Ausstellung illustrierte hybride Sinnlichkeit und Kraft sich im anschließenden Ersten Weltkrieg durch die ästhetisch durchgestylten Maschinen entlud.

„1910 — Halbzeit der Moderne. Van de Velde, Behrens, Hoffmann und die Anderen“. Eine Ausstellung im Westfälischen Landesmuseum für Kunst- und Kulturgeschichte in Münster. Bis 8. November. Täglich, außer montags, von 10 bis 18 Uhr. Eintritt frei. Katalog 240 Seiten, zahlreiche farbige und sw-Abbildungen, Hatje-Verlag, 38 DM

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