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Der volle Mond

Die Kulturzeitschrift „Al-Hilal“ wird 100 Jahre alt  ■ Von Karim El-Gawhary

Er schiffte sich Ende letzten Jahrhunderts auf einem Boot voller Schafe in den Hafen von Alexandria ein — der junge Libanese Gergui Ziadin. Eigentlich war er nach Ägypten gekommen, um dort Medizin zu studieren. Statt dessen entdeckte er seine Vorliebe für Literatur und Geschichte. Mit drei weiteren Mitarbeitern und einem Grundkapital von 44 Pfund mietete er einen Laden in Kairo und veröffentlichte ein kleines Magazin mit dem Namen Al-Hilal. Er ahnte nicht, daß die Geburtsstunde der traditionsreichsten arabischen Kulturzeitschrift geschlagen hatte.

„Seit der Gründung war die Zeitschrift ein Wegweiser für den arabischen Intellekt. In wenigen Jahren wird sie ein Jahrhundert alt sein. Ein Jahrhundert, in dem sie wie ein stabiles Schiff den Ozean der Jahre durchpflügt hat, voll mit einem Schatz an Ideen und Literatur, mit dem sie an der Entwicklung der arabischen Gemeinschaft Anteil hatte.“ So beschrieb der inzwischen verstorbene ägyptische Schriftsteller Taufiq Al-Haqim auf seinem Krankenbett vor acht Jahren Al-Hilal. Haqim, selbst einer der Hilal-Autoren, galt als die treibende Kraft des modernen ägyptischen Theaters. Diesen Monat ist das Jahrhundert, von dem er sprach, voll.

Es war eine spannende Zeit, als im September 1892 die erste Ausgabe von Al-Hilal frisch aus der Druckpresse kam. Ganze neun Millionen ÄgypterInnen lebten dort, wo heute 54 Millionen zusammenrücken. Die Briten hatten das Land zum Protektorat erklärt, vor 20 Jahren ist der Suezkanal feierlich eröffnet worden. Der Khedive Ismail hatte mit seiner Idee, Ägypten nach europäischem Standard zu modernisieren, den Staat in unermeßliche Schulden gestürzt. Dafür hatte Kairo nun ein Opernhaus, eine moderne Eisenbahnlinie nach Alexandria und die britische Schuldenverwaltung auf dem Hals.

Es entstand die ägyptische Nationalbewegung gegen die britische Kolonialherrschaft mit ihrem Slogan „Ägypten den Ägyptern“. Schon bald entdeckte die Bewegung ein neues Politikum: die Öffentlichkeit. Die Folge war die massenhafte Gründung von Zeitungen, in denen die Opposition gegen die britische Besetzung zum Ausdruck kam. Es war eine Zeit, in der der Libanon und Ägypten darum wetteiferten, wer von beiden die meisten Verlage gründet. Al-Hilal hat als einzige arabische Kulturzeitschrift aus dieser Zeit bis heute überlebt. „Zeitschrift für Wissenschaft, Geschichte, Gesundheit und Literatur“ lautete der Untertitel der neuen Publikation. Ziadin träumte von kulturellem Aufbruch und Aufklärung. Die arabischen Leser sollten mit der Weltkultur in Verbindung gebracht werden und ihre eigene Kultur schätzen lernen.

Zu berichten gab es in den folgenden Jahren vieles. Im Bereich Theater war die improvisierte Komödie in Mode. Vom Text abzuweichen, war damals nicht die Ausnahme. Es herrschte eine geheime Sprache zwischen Schauspielern und Publikum, die für die Zensoren der Briten und des Khediven kaum greifbar war. 1905 gab es in Kairo fünf Kinos, in Alexandria sogar 53. Zwei Jahre zuvor war das berühmte ägyptische Museum gegründet worden, 1908 das Institut für schöne Künste.

Al-Hilal läßt sich wohl am besten in „Mondsichel“ übersetzen, ein geeigneter Name für die neue Zeitschrift. Er symbolisierte die monatliche Herausgabe der Publikation und die Hoffnung, daß sie weiter wachsen werde, denn mit Hilal wird immer nur der wachsende Mond bezeichnet.

In Porträts wurden in den ersten Ausgaben verschiedene osmanische Sultane, der Pharao RamsesII., Napoleon oder Victor Hugo vorgestellt. Besonders gerne beschäftigte sich Ziadin in den ersten Jahren mit dem Thema Sprache. Texte über Sprachgeschichte, den Ursprung der arabischen Schrift und Diskussionen über die erste arabische Sprachgesellschaft in Ägypten finden sich in diesen Ausgaben. Ziadin gehörte zu denjenigen, die die Reinheit des klassischen Hocharabisch gegen die Forderungen einiger seiner Zeitgenossen verteidigte, die verlangten, daß die arabischen Dialekte dessen Platz einnehmen sollten.

Wissenschaft war für die Herausgeber von Al-Hilal die Basis der Zivilisation. Sie sollte mit Hilfe der arabischen Sprache den Arabern zugänglich gemacht werden. „Hilal war nicht nur eine Zeitschrift, sondern eine Schule, durch die eine Generation nach der anderen graduierte“, schreibt der Journalist Hilmi Monem.

Die Liste berühmter arabischer AutorInnen, die für Al-Hilal ihre Feder spitzten, ist lang. Beispielsweise Ahmad Amin, der sich mit arabischer Literatur und modernen Methoden der Histographie beschäftigte. Amin wollte den Islam mit den modernen Trends in Einklang bringen. Eines seiner Lieblingsthemen: die Notwendigkeit, die islamische Geschichte und Kultur mit modernen geschichtswissenschaftlichen Methoden zu studieren.

Ein anderer bekannter Hilal- Autor war Taha Hussein, der sogenannte Vater des modernen ägyptischen Romans. Schon in jungen Jahren verfaßte er für Al-Hilal Theaterkritiken, besonders wenn er wieder einmal von einer seiner Reisen aus Paris zurückgekehrt war. Das größte Aufsehen erregte er 1926, als er mit kritisch-wissenschaftlichen Methoden vorislamische Dichtung analysierte. Er bezweifelte, daß sie tatsächlich vor der Zeit des Islam geschrieben wurde, und löste damit einen Skandal aus, hatte er sich doch mit kritischen Methoden den heiligen Texten zugewandt und an den Fundamenten der arabischen Geschichtsschreibung gerüttelt.

Doch Al-Hilal bildete auch ein Forum für die bis heute brennende Frage der Rolle der Frau in der islamischen Welt. Qassim Amin veröffentlichte dort sein berühmtes Werk „tahrir al-mar'a“, die Befreiung der Frau. Manche bezeichnen Amin mit dem paradoxen Terminus „Vater des ägyptischen Feminismus“, manche sehen in ihm den ersten säkularen Denker Ägyptens. Amin war ein Verfechter des schrittweisen Lüftens des Schleiers, er wandte sich gegen Polygamie und gegen die absolute Macht des Mannes bei der Scheidung, alles Themen, die noch heute auf der ägyptischen Tagesordnung stehen. In hitzigen Debatten forderte er, daß Mädchen eine Schulausbildung bekommen und daß der Beamtensektor auch Frauen offensteht. Schon damals wurde er mit dem Tod bedroht.

Nicht anders geht es der noch heute lebenden Al-Hilal-Mitarbeiterin Amina Said. Ihr Haus wird heute rund um die Uhr bewacht. 1914 besuchte sie die erste Realschul-Mädchenklasse Ägyptens. Als erste ägyptische Frau verschrieb sie sich ganz ihrer journalistischen Karriere. Sie war auch die erste Frau, die in der Leitung des Hilal-Verlages einen Platz bekam. In provokativen Kolumnen hatte sie sich in ihrer eigenen Zeitschrift, Die neue Eva, die ebenfalls vom Al-Hilal-Verlag herausgegeben wurde, für eine Reform des ägyptischen Familienrechts stark gemacht.

Die goldenen Zeiten hat das traditionsreiche Magazin inzwischen hinter sich. „Bis in die fünfziger Jahre hatte sich das Magazin meist Fragen der Zukunft angenommen“, sagt Mahmud Qassem, einer der Hilal-Autoren. „In den sechziger und siebziger Jahren war man mit der Gegenwart beschäftigt, heute blicken wir zurück in die Vergangenheit.“ Die erste Zeit war für Qassem die beste.

Zu Sternstunden wurden 100.000 Exemplare von Al-Hilal in der gesamten arabischen Welt verkauft. Heute verkauft sich nur noch ein Zehntel davon. Das Gebäude des Verlages und die Redaktion von Al-Hilal haben auch schon bessere Zeiten gesehen. Die schmuddeligen Wände sprechen ihre eigene Sprache, wenngleich versucht wird, wenigstens diesen Mißstand für den bevorstehenden Besuch des Präsidenten zu beheben. Die Geburtstagsfeier und die Jubiläumsausgaben des Verlages verlegten sich mehr darauf, die glorreiche Vergangenheit zu beschwören. Mit großem Prunk übrigens, der so manchen zu der Frage veranlaßte, warum dieses Geld nicht in die Erneuerung der Zeitschrift gesteckt wurde. Gesucht sind die großen Schreiber der Vergangenheit. Viele der ägyptischen Journalisten bevorzugen es inzwischen, weit besser bezahlte Aufträge für Zeitschriften und Magazine aus den Golfstaaten anzunehmen. Hilal-Autoren wie Mahmud Qassem hoffen auf bessere Zeiten und einen neuen Wind in der Redaktion.

„Das Geheimnis der Fortdauer von Al-Hilal ist, daß sie das Geheimnis Ägyptens in sich trägt“, formulierte der Dichter Mustafa Badawi zum hundertsten Jubiläum. Vielleicht liegt das Geheimnis Ägyptens in seiner Vergangenheit begraben?

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