: Lady sings the Blues
Irmtraud Morgners nachgelassener Roman „Rumba auf einen Herbst“ ■ Von Frauke Meyer-Gosau
Baila mi Rumba spielt der ehemalige Student der Arbeiter- und-Bauern-Fakultät (ABF) Kai für seine ehemalige Mitstudentin und Geliebte dreier Tage, zweier Nächte in deren Phantasie auf ihrem blauen Klavier: ein Fanal zum Aufbegehren gegen die Gewöhnung ans Falsche, für „die sanfte Gewalt der Vernunft“. Das ist Morgners „Rumba“: Ein Roman in Sonatenform, mit vier „Sätzen“ also, betitelt „Blues“, „Schalmeientwist“, „Notturno“ und „Cantus firmus“ — musikalischer Postmodernismus. Wie es die Sonatenform verlangt, gibt es zwei zentrale Themen: Krieg und (gesellschaftliche, Liebes-)Beziehungen. Das Opus wird signalhaft instrumentiert mit Plattenspieler, Schalmei, Trompete, Klavier und Musikbox, untermalt von Schlagern wie „Stern von Rio, du könntest mein Schicksal sein“, und natürlich darf auch das gute alte Arbeiterlied „Wann wir schreiten Seit an Seit“ nicht fehlen. Eingefaßt ist diese Polyphonie der Kräche und Klänge von einer Morgnerschen Mythen-Kreation, einer in die Jetzt- und Ewigkeits-Zeit gesetzten Liebesgeschichte von Orpheus und Persephone, die nach jedem einzelnen Sonatensatz auf einer neuen Etappe ihres Weges um die Erde wiedererscheinen und das Buch schließlich mit Persephones Lust-Schrei „Halleluja“ enden lassen. Wer nun auch noch wüßte, was das Lexikon sagt: daß nämlich Rumba, der oder die ursprünglich der Tanz der schwarzen Plantagenarbeiter auf Kuba war, könnte sich fast schon selbst zusammendenken, aus welcher Zeit hier erzählt werden soll und worum es gehen wird: um einen Gesellschafts-Tanz im einfachen wie im übertragenen Sinne, einen Tanz auf dem Vulkan. Es ist die Zeit der Kuba-Krise, Oktober 1962, die Welt starrt von Waffen, Bomben.
Herbst: Persephone wird zu ihrem Mann Pluto in die Unterwelt zurückkehren und sich von ihrem Geliebten Orpheus trennen müssen. Was nach dem Winter sein wird, wer weiß das? Die Architektin Evelyne B. und der Ingenieur Lutz P. verbringen, gegen ihren Willen, ohne die jeweiligen Ehepartner, ihren Urlaub in einem Hotel am See. Sie verlieben sich ineinander und „kriegen den Blues“. Was aus ihnen, was aus ihren Ehen werden wird nach diesem Herbst, ist ungewiß. Dies umso mehr, als im dritten und vierten Satz der Roman-Sonate Ehemann Uwe B. und Ehefrau Karla P. mit ihrem bisherigen Leben ebenfalls in die Krise geraten, sich neu und noch einmal verlieben, auch hier in Reaktion auf ein bisher zu eng, zu dumpf, zu anspruchslos gelebtes Leben. Das „Nein“, das die durch einen Liebesakt vom vorbereiteten Selbstmord abgehaltene S-Bahn-Führerin Maud als letztes Wort des „Cantus firmus“ wie „einen tierischen Laut“ herausschreit, ist auch Uwes und Karlas „Nein“ zur Beschaffenheit ihrer persönlichen Welt, zur Beschaffenheit aber ebenso der Welt im allgemeinen.
„Herbst“ ist schließlich auch für die Generation des alten Pakulat, dessen Lieblingslied „Wann wir schreiten Seit an Seit“ heißt, dem die Nazis beim Verhör das rechte Auge und das Gehör zerschlagen haben, der ein Haus besitzt, das niemand nach ihm haben will, der nur noch eine Woche lang Zimmermann sein wird und dann Rentner. Sein jüngster Sohn Benno spielt Trompete bei den „Barbudo-Stompers“, würde am liebsten mit einer Interbrigade nach Kuba gehen und den kubanischen Revolutionsmarsch in eine Rumba umschreiben. Als er in einer öffentlichen Aufführung seines Vaters Lieblingslied „vertwistet“, bricht dessen letzte Hoffnung zusammen: Benno setzt sich nach handgreiflichem Streit mit dem Alten auf die Großbaustelle nach Schwedt ab — in der DDR der sechziger Jahre ein Symbol für gesellschaftlichen wie technischen Fortschritt. Offenes Ende auch hier: „Venceremos“?
Nur einen Alten gibt es, der zum „Cool Jazz“ der jüngeren Generation aufschließen kann und die Schalmei nicht gegen die Trompete ausspielen muß: Franz Kantus aus dem „Cantus firmus“, der sich in einem herzlichen Besäufnis mit dem Physiker und Trompeter, der individualistischen Provokation „im schwarzen Supermanpullover“ Dr. Kai M., zusammentut und nach der Maxime lebt, nicht an Personen, sondern an „die Sache“ habe man sich zu halten. Das hat er getan, der 1937 emigrierte und 1955 erst, aus dem Gulag offenbar, „rehabilitiert“ in die DDR entlassen wurde. Bei ihm hat der Herbst schon einen Vorschein von Frühling, für ihn steht nicht Mauds rasendes „Nein“, vielmehr das lustvolle, abschließende und darin jedem neuen Anfang zustimmende „Halleluja“ der Persephone.
Die Lust ist es ja überhaupt, die diesen Text im Innersten und Äußersten zusammenhält, die ihn aufreißt und antreibt: Liebe und Tod, Kampf und Tanz, brüllendes „Ja“ und wüstes „Nein“ — die Musik ist ihr Zeichen: Swing, Blues, Twist. Wo, wie im Eheleben von Karla und Lutz, die Verhältnisse im 19.Jahrhundert stehengeblieben sind, wird ein Notturno von Chopin gespielt, wo, wie bei Pakulat, die politische Sicht vom Bild machtvoller Arbeiteraufmärsche der Vergangenheit besetzt ist, ist die Schalmei das gegebene Instrument. Die Lust aber lebt aus der „Phantasie des Einzelnen“. Sie setzt die allerorts verlangte „Disziplin“ außer Kraft. Da kann man per Schlüsselumdrehung aus Pakulats Küche sich einfach mit den anderen Wohnungen seines Mietshauses kurzschließen; da entsteigen Karlas Klavier die Widerspruchsgeister Geist und Natur in Frauengestalt und beginnen zu klimpern („Die Geschichte ist zu rührend. So was verlangt Pedal“); da wird eine liebesfeindliche Zimmerwirtin eben mal für drei Tage „eingefrostet“, damit sie Ruhe gibt und die Liebenden tun läßt, was sie müssen. Da ist also, als legitimes Kind von Lust und Phantasie, auch der Witz, der homerisches wie hexisches Gelächter erzeugt und natürlich ganz nebenbei so schöne kleine Sätze wie: „Jeder Ziegel ein Sargnagel im Schwert des Imperialismus“. Weil jedoch mutwillige Lachbesoffenheit nur die Kehrseite einer diabolischen Nüchternheit ist, stehen dann auch Feststellungen dieser Art da: „Kindergärtnerinnen führten ein an Wagen und Befehle und Hände gefesseltes Rudel Kinder über den Fußweg: Freiheitsdressuren.“
Dergleichen konnte nicht gutgehen. Für das Jahr 1962 ließ Morgner den Ingenieur Lutz Pakulat zu seiner jazzversessenen Ev sagen: „Ich bin nicht gegen Enthemmen, versteh mich nicht falsch. (Aber:) Ich lehne jeden Blues ab, prinzipiell.“ 1965, auf dem 11.Plenum des ZK der SED sprach der nachmalige Partei- und Staatschef, der notorische Schalmeienliebhaber Erich Honecker dem Ingenieur das sinngemäß nach: „Wir haben nichts gegen einen gepflegten Beat.“ Daß man gegen einen Morgnerschen „Rumba“ alles mögliche haben würde, und zwar „prinzipiell“, war danach klar: „Skeptizistisch durch und durch bis zum Nihilismus, ein Buch des enthemmten Individualismus“, urteilten die Zensoren. Der Roman blieb unveröffentlicht.
Nun aber können sich die GermanistInnen freuen: Morgners „Rumba“ ist endlich in Gänze zu besichtigen. Teile daraus hatte die Autorin wie Kassiber immer wieder in andere Texte eingeschmuggelt. Jetzt aber ist endlich nachweisbar, daß alle späteren zentralen Themen der Morgner hier, Anfang der sechziger Jahre, ebenso schon da waren wie charakteristische Elemente ihrer Schreibweise; und da sie selbst sich in einem frivolen Nachsatz unbeschwert des geistigen Diebstahls bei „Weisen und Dichtern und Heiligen“ zeiht, werden auch die FreundInnen der Intertextualitätsforschung voll auf ihre Kosten kommen. Wichtiger aber noch scheint, mit Verlaub, daß LeserInnen hier endlich wieder ein Buch in die Hand bekommen, das Leselust macht und darüber wie nebenbei auch den Drang nach Erkenntnis befriedigt: Wer etwas erfahren möchte über die DDR, wie sie war; wer noch einmal einen sinnlichen Eindruck davon sich zu Gemüte führen will, daß es die DDR-Literatur nicht gab, sondern AutorInnen, die in der Parolentretmühle gingen und solche, die — wie Morgner — statt dessen moderne deutsche Literatur schrieben, die keinen Vergleich zu scheuen braucht; auch also, wer noch einmal eine richtig schöne Wut im Bauch bekommen will über ein Land, das sich eine „demokratische Republik“ nannte und meinte, ein solches Buch sich nicht leisten zu können — Morgner lesen: Baila mi Rumba!
Irmtraud Morgner: „Rumba auf einen Herbst“. Roman. Luchterhand. 376 S., 38DM.
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