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Siebenschläfers Seelenwanderung

■ Hans Christoph Buch und das Jüngste Gericht des Kolumbusjahres

Es gibt nichts mehr zu erzählen. Alles ist zu Ende.“ Mit diesem Abgang schließt Hans Christoph Buch pünktlich zum Jahrestag des 12. Oktober die Akten einer fünfhundertjährigen Geschichte von Ausbeutung und Zerstörung. Seine „Rede des toten Kolumbus am Tag des Jüngsten Gerichts“ sagt schon im Titel, was sie mit der ganzen Armada von Kolumbusbüchern und -filmen über das christliche Abendland hereinbrechen sieht: die unheimliche Wiederkehr des Vergangenen in Form eines kolossalen Strafgerichts.

Buchs toter Kolumbus predigt nicht wie Jean Pauls „Toter Christus“ von der Dachkante des Weltgebäudes herab. Er tritt, so die Grundidee des Romans, als sein eigener Erzähler auf: ein grollender Seefahrer, der auszieht, all die „Gerichts- und Geschichtsschreiber“ das Fürchten zu lehren, die sich seines Lebens bemächtigt haben. Geschickt reiht Buch auch sich selbst unter die von Kolumbus Angegriffenen ein und pariert damit den Vorwurf, ebenfalls ein schnöder Konjunkturritter der heurigen Amerika-Festivitäten zu sein — ein undankbarer dazu. Seinen fiktiven Erzähler läßt er alle ihm angebotenen Engagements bei den Kolumbus-'92-Feierlichkeiten absagen: historische Umzüge, Happenings, Talkshows...

Doch so einfach macht es sich Buchs Geschichte nun auch wieder nicht. Bereits der raffinierten Harmlosigkeit des Eröffnungssatzes sollte niemand sich ohne die Lesehilfe des Klappentextes gewappnet nähern, bei dem Werk handele es sich um „die Variante eines posthistorischen Romans“. Wohlan: „Mein Name ist Christoph Kolumbus, und ich bin der Täter, der an den Tatort zurückkehrt“, heißt es dort weiter.

Gewiß, dergleichen kennen wir aus der Trivialpsychologie des Kriminalromans, wo sich der Schuldige durch seine Rückkehr an den Ort des Verbrechens verrät. Wo aber ist jene Spur Ironie auszumachen, die diesen Anfang von der bloßen Phrase trennt? Zuckt da nicht etwas in uns zusammen, wenn Kolumbus schonungslos bekennt: „Wie alle großen Männer habe ich klein angefangen“?

Der Tatort, an den der Seeheld seiner Majestät Isabellas der Katholischen zurückkehrt, liegt in jenen Gefilden, die der westlichen Welt als Gemeinplätze bekannt sind: „Der Weg ist das Ziel, und ich war mein Leben lang unterwegs. Reisende soll man nicht aufhalten. Wenn einer eine Reise macht, hat er was zu erzählen. Ich habe nichts zu erzählen.“ Wahrheiten wie diese lassen sich nurmehr im Tonfall der Persiflage vortragen, denn, so Kolumbus im skeptischen Geiste Adornos: „Es gibt nur ein Leben im Falschen, ein richtiges Leben gibt es nicht.“

Solcherart vorgewarnt, lesen wir im Lüg- und Lockbuch des neuen Kolumbus, der gleich mehrmals aus seiner historischen Rolle fällt. Einst glaubte er, so vertraute er jenem Bordbuch an, in Westindien das Paradies auf Erden vor sich zu haben, wo es unter lauter schönen und glücklichen Menschen eine Lust sein müsse zu leben. Der Zeitgenosse Kolumbus hingegen sieht sich eines Schlechteren belehrt, wird in Haiti Augenzeuge eines Massakers während der Präsidentschaftswahlen 1987. Da springen „Männer in gefleckten Kampfanzügen“ von einem Lastwagen und feuern mit Maschinenpistolen und automatischen Gewehren in eine Menschenmenge, die vor einem Wahllokal in Port-au-Prince Schlange steht, „zumeist Schülerinnen und Studenten, die hier zur Schule gingen oder studierten. Sie hatten noch viel vorgehabt an diesem Tag. Jetzt schliefen sie; nein, sie schliefen nicht, sie waren tot.“

Die Toten von Port-au-Prince, Opfer der Geheimpolizei von „Papa Doc“ und „Baby Doc“ Duvalier, sind Buchs eigentliche Helden, von denen und für die nun doch erzählt werden muß. Ihr mit wenigen Sätzen entworfenes Bild ist den folgenden, in die Kolonialgeschichte der Antilleninsel zurückreichenden Episoden wie ein synkretistischer Grabstein vorangestellt. Als Schlafend-Tote erinnern sie an die „Zombies“ des haitianischen Voodoo-Kults, die nur durch Salz aus ihrer Starre erweckt werden können; doch kennt auch der katholische Heiligenkalender solche „Siebenschläfer“ — jene sieben Märtyrer, die unter den spätrömischen Christenverfolgungen fast zweihundert Jahre in einer Höhle eingemauert schlummerten und hernach als legendärer Beweis für die Auferstehungslehre galten.

Kolumbus entdeckt also nicht mehr das sagenhafte El Dorado, sondern den „Eingang zur Unterwelt“, der nun das Stichwort für den Szenenwechsel zu den drei Haupterzählungen des Romans liefert. Hier muß der Genueser sein Rederecht abtreten an die schlafenden Toten diverser europäisch-haitianischer Affären. Zunächst nimmt er Gestalt und Biographie eines vor den Nazis geflohenen Berliner Juden an, der als Sammler präkolumbianischer Kunst in Haiti zum Mäzen wider Willen des Diktators Fran¿ois Duvalier wird. Diesen ersten Wiedergänger konstruiert der auch literarisch bewanderte Weltenfahrer aus Melvilles „Moby Dick“, Frischs „Gantenbein“ und der Bibel: „Mein Name sei Israel“, verkündet Kolumbus' Bauchredner „im Innern des Wals“, der ihn nach Amerika bringt.

Auf die fiktive Lebensbeichte des jüdischen Emigranten folgt, in umgekehrter Chronologie, die wahre Geschichte des deutschen Vormärzdichters und Revolutionärs Georg Weerth. Das Schicksal des von einer unglücklichen Liebe in die Karibik Getriebenen wird nach authentischen Briefen von diesem selbst erzählt. Rolf-Dieter Brinkmanns Gedichtband-Titel „Westwärts I und II“, den Buch hier als Kapitelüberschrift verwendet, hätte als Motto auch all der anderen rastlos Reisenden fungieren können.

Im skurrilen Schlußdrittel nämlich, für das kein Ich-Erzähler mehr verantwortlich zeichnet, geht es mit den aus drei Jahrhunderten zusammengerafften Anekdoten, in denen zersägte Krieger und wildgewordene Streithähne ihr Unwesen treiben, zwar reichlich drunter und drüber, aber immer gen Westen. Ob nun von hugenottischen Irokesen, polnischen Grenadieren oder elsässischen Siedlern die Rede ist: stets geht der Zug ins vergeblich gelobte Westindien, und stets endet er so, wie im letzten dieser Romane in Pillenform, der zum unsterblichen Kolumbus zurückführt: mit einem Schiffbruch.

Was jedoch hat Kolumbus, immerhin als Hauptredner des Bandes annonciert, mit diesen flüchtig hingetupften Binnen-Erzählungen zu schaffen, außer daß er sich auf nicht näher erklärte Weise in ihren Wortführern inkarniert? In der aus Buchs früheren Haiti-Romanen bekannten Sagenwelt, dem Reich des Voodoo-Friedhofsgottes „Baron Samedi“, hat auch das Erzählverfahren, die Seelen der Toten sprechen zu lassen, seinen kulturhistorisch plausiblen Ort.

Bloß: das magische Handwerk des haitianischen Märchenerzählers, der, mit der Formel „Krick- krack“ seine Geschichten eröffnend, die Leblosen auferweckt, mag dem zugereisten Erzähler in eigener Sache nicht recht gelingen. Auf diesem phantastischen Terrain, wo zwischen Haiti und der Dominikanischen Republik der „Rio Massacre“ fließt und die „Savanne Zombie“ sich erstreckt, bleibt die Figur des Kolumbus das blasseste aller Gespenster, ein literarisches Phantom, das — Siebenschläfer unter Zombies — den haitianischen Episoden nur als Stützkorsett dient.

Als Täter, so hatte Cristóbal Colón gleich zu Beginn seiner Rede verkündet, kehre er hiermit zurück; in seiner Sprache, dem Spanischen, heißt Täter autor. Die beiden Figuren, denen er seine Stimme leiht, haben dies eine gemeinsam, daß sie, literarischen Vorlagen entsprungen, zugleich selbst Autoren sind: Buch-Täter und Opfer in einem. So berichtet der Emigrant Israel von seinem Vorleben im Hinterzimmer des Wiener Caféhauses Hawelka, er habe dort fingierte Reportagen aus dem Spanischen Bürgerkrieg verfaßt und unter dem trefflichen Pseudonym „Stubenhocker“ erfolgreich der Tagespresse feilgeboten. Falsch wie das Leben selbst ist auch „Schnapphahnski“, der von Heinrich Heine ausgeborgte nom de guerre, unter dessen Flagge Georg Weerths Fortsetzungsroman durch Karl Marxens Neue Rheinische Zeitung segelte.

Gleich ihnen rührt auch Buch Figuren aus zweiter Hand zusammen; nicht im Traume fällt ihm ein, ihnen zu lebensechter Wirklichkeit zu verhelfen, wie sie sich der literarische Realismus des 19.Jahrhunderts im schönen Sinnspruch Conrad Ferdinand Meyers noch zusammenreimen konnte: „Ich bin kein ausgeklügelt Buch, sondern ein Mensch mit seinem Widerspruch“ — im „posthistorischen“ Romanzeitalter gilt das Gegenteil.

Damit dennoch der Zauber beginnen kann, bei dem die Märchenerzähler die ihnen anvertrauten Seelen in tiefstem Schlummer vorfinden, muß der Siebenschläfer Kolumbus einen letzten eklatanten Selbstwiderspruch in Kauf nehmen — beteuert er doch fast ein halbes Dutzend Mal, „den Leser“ mit seinen Geschichten nicht „langweilen“ zu wollen. Diesem einsamen, den vielen Erzählern rettungslos unterlegenen Leser steht noch bevor, was in der ersten Episode dem Emigranten Israel auf seiner Schiffsreise widerfuhr, als er „Moby Dick“ beiseite legte und sich in den „Kurzen Lehrgang zur Geschichte der KPdSU“ vertiefte. „Die Lektüre wirkte Wunder.“ Alexander Honold

Hans Christoph Buch: „Rede des toten Kolumbus am Tag des Jüngsten Gerichts“. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1992. 256 Seiten, geb., 32 DM.

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