: Geschichtstourismus
Hanns-Josef Ortheils Bewältigungsroman „Abschied von den Kriegsteilnehmern“ ■ Von Thomas Groß
Ein wenig Pathos, ein gewisser Böll- und Borchert-Ton war immer schon im Spiel, wenn Hanns-Josef Ortheil öffentlich über den deutschen Roman nachdachte. Zeitroman sollte er sein, engagiert, wagemutig, avanciert, vor allem aber brennend geschichtsbezogen. „Wir müssen weiter, weit, ja weit über das Gestrige hinaus“, beschwor Ortheil schon in zartem Alter das Programm einer zukünftigen Romanliteratur — und schreckte auch nicht vor Proben aufs Exempel zurück, darunter das 700-Seiten- Epos „Schwerenöter“, in das er allen Ernstes die Geschichte von 40 Jahren Bundesrepublik hineingepackt hat. An den „Roman einer Zeitenwende“ allerdings hat selbst Ortheil sich bislang nicht herangetraut.
Jetzt doch. In Lettern von beachtlicher Größe prangt das gewichtige Attribut auf dem scharlachroten Schutzumschlag des gerade erschienenen Romanwerks, Titel: „Abschied von den Kriegsteilnehmern“. Nach Ansicht des Verlags und höchstwahrscheinlich auch des Autors markiert es „eine Zäsur in der deutschen Literatur“. Mal wieder. Diesmal allerdings ohne Witz, ohne Wenn und Aber. Denn der Roman entfaltet seinen Stoff, eine Vater-Sohn-Geschichte, vor dem Hintergrund jenes historischen Umbruchs in Osteuropa, der der deutschen Wiedervereinigung vorausging. In dem historischen Moment, in dem die Blöcke schmelzen und die Nachkriegszeit politisch zu Ende geht, taut gleichsam auch das frostige Verhältnis der Generationen zueinander auf. Weshalb Ortheils Roman zu allem anderen auch noch einen „Wendepunkt im Dialog zwischen den Kriegsvätern und den Nachkriegssöhnen“ darstellen soll.
„Zäsur“, „Wendepunkt“, „Zeitenwende“ — wo literarisch derart aufs Ganze gegangen wird, mag selbst die Natur noch einmal mitspielen: „Als ich aber aus der kleinen Leichenhalle des Dorfes ins Freie trat, schlugen mir die Sonnenstrahlen gerade ins Gesicht...“ Mit diesen Worten, die den Roman scheinbar unscheinbar eröffnen, annonciert Ortheils Erzähler bereits, was dieser selbst noch nicht zu wissen vorgibt: Die Zeichen von Zeit und Natur stehen günstig für ihn. Zwar ist der Vater gerade erst gestorben, der Zug mit den Trauernden setzt sich langsam in Bewegung, unter ihnen auch der Sohn, der als einziger von einstmals fünf Söhnen übriggeblieben ist. Doch ebenso war „das Frühjahr nicht mehr weit, und in diesem Frühjahr wollte ich immer wieder zurückkommen in mein Elternhaus, um den großen Garten umzugraben und den Wald ringsum zu durchwühlen.“
Zunächst aber ist es Winter, und so problemlos läßt sich der Garten des Vaters nicht bestellen. Statt den Generationenvertrag auf seine Weise zu erfüllen und den Platz des Toten in Haus, Hof und Gesellschaft einzunehmen, sitzt der Sohn melancholisch im Keller, wo er nachgelassene Dokumente ordnet. Ein Dialog mit dem Vater setzt ein, in dessen Verlauf der Sohn nachträglich, qua Erinnerung, die Lebensrealität des Gestorbenen — seine Ehe, den Berufsalltag als Landvermesser — zu rekonstruieren versucht und dabei schon bald beim zweiten Weltkrieg landet. Der Krieg ist nämlich auf seltsame Weise Voraussetzung der eigenen Existenz. Denn wären die vier Söhne, die dem Erzähler wie dem Vater in den Tod vorausgegangen sind, nicht direkt oder indirekt Opfer dieses Kriegs geworden, es hätte ihn, den letzten Sohn, nie gegeben. Langsam begreift er, in welchem Maß er mit dem Leben des Vaters verbunden ist: als paradoxes Resultat des Überlebenswillens wie der Verdrängungen der Elterngeneration.
Bei Ortheil folgt daraus ein krisenhafter Aufbruch im Stil der Siebziger: der namenlos bleibende Held mit autobiographischen Zügen setzt sich in ein Flugzeug und besucht einen alten Schulfreund im amerikanischen St.Louis. Mit dessen kleiner Tochter, für die er zu einer Art Ersatzvater wird, unternimmt er Streifzüge in die Umgebung, begibt sich auf die Spuren Tom Sawyers, schippert sogar mit ihr auf einem Dampfboot den Mississipi hinunter. Doch auch hier verfolgen ihn Zeichen des Vaters, die immer zugleich Zeichen des Deutschen sind: Das mitgenommene Fernglas entpuppt sich als des Vaters „Feldstecher“, und die biertrinkenden Urenkel deutscher Aussiedler plagen ihn mit ihrer Gesellschaft sowie dem überaus zweideutigen Satz „Unsere Altvorderen, die vertrugen schon was“.
Der Sohn flieht, jetzt endgültig allein, nach New Orleans, wo er in Whiskey und Jazz versumpft, flieht, nachdem er davon auch nur den Blues gekriegt hat, weiter nach Santo Domingo in der Karibik, um schließlich in einem entlegenen Inseldorf das Verschwinden zu üben. Erst dort, geographisch am weitesten vom Vater entfernt, heruntergekommen und in jeder Hinsicht am Ende, kehrt das Geschehen sich um. Der Sohn greift zu Papier und Schreibzeug, setzt sich an einen Tisch und erzählt die Geschichte seines Vaters, die zugleich Teil der eigenen ist. Ortheils Kunstgriff: Der Anfang des Romans entpuppt sich im nachhinein als Bestandteil dieser Notizen, somit als bereits verstandene und angeeignete Geschichte.
Zügig geht es von da an auf den Schluß zu. Über die Stationen Prag und Wien bewegt sich der Held zurück zum Ausgangspunkt, um auf Seite 412 sowohl seinen Vater als auch die toten Brüder, die er bislang unsichtbar auf dem Buckel mit sich herumgeschleppt hat, noch einmal, und diesmal endgültig, zu Grabe zu tragen.
Ende gut, manches gut. Dick aufgetragen ist sie, diese Erzählung von Flucht und Wiederannäherung, und Herrgott ja, wir kapieren: Ortheils „Abschied von den Kriegsteilnehmern“ ist zunächst einmal eine Bewältigungsstory wie aus dem psychoanalytischen Lehrbuch, ein Findebuch des Vaters, das die Freudsche Trias Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten idealtypisch durchexerziert. Erst nachdem der Sohn seinen Widerstand gegen die Verquickung der eigenen Geschichte mit der des Vaters aufgegeben hat, kann er endlich den Phantasien Raum geben, die ihn bedrängen, sie sich gleichsam vom Leib schreiben.
Hätte der Autor es dabei bewenden lassen, sein „Abschied von den Kriegsteilnehmern“ wäre den Vater-Sohn-Geschichten der Sechziger und Siebziger zumindest in einem voraus: Das Bild des Vaters ist nicht mehr durch Anklage und Selbsthaß — die Konfliktlinien der Studentenbewegung verdeckt. Der Erzähler durchschaut den Wunsch, der Vater möge im Krieg auf seiten der Verfolgten gestanden haben, als Bestandteil einer negativen Heroisierung. Sein Vater ist eben weder Held noch finsterer Nazi-Schurke, sondern Mitglied eines Schienenlegetrupps, ein Bauernsohn aus dem Rheinischen, der sich um den Mord an den Juden in der Tat nicht gekümmert hat. Wenn etwas in dem Roman gelungen ist, dann diese Annäherung an die Realität des Vaters, der sich bei Kriegsende auf Krücken zurück in das Dorf schleppt, das er nur ungern verlassen hat.
Aber Ortheil will ja mehr, viel mehr. Das Grübeln seines Erzählers versteht sich als stellvertretende Trauerarbeit einer ganzen Generation. Und mehr noch: Ein objektives Moment in der Geschichte antwortet dem subjektiven Streben, indem es ihm den Weg weist. Nachdem der Erzähler schon fast gesundet ist, sieht er im Fernsehen Bilder von ostdeutschen Flüchtlingen, die in der Prager Botschaft festsitzen. Schon kurz darauf macht er sich, fiebernd die deutsche Wiedervereinigung vorausahnend, auf den Weg nach Prag, um den Ausreisewilligen eine frohe Botschaft zu überbringen. „Wir warten, sagte ich, ganz erschöpft, es ist ja nur noch ein Sprung. Es wird eine Freude sein, eine ganz unglaubliche Freude, namenlos, eine namenlose Freude, Sie verstehen.“
Das ist alles andere als ironisch gemeint. „Im Zeitroman soll eine Epoche ein Gesicht erhalten“, schrieb Ortheil in einem Essay von 1990, „die Geschichte bedarf nicht der Illustration (das erledigen die visuellen Medien), sondern der benennenden Deutung und Durchdringung“. Der Roman, mit anderen Worten, ist verkappte Geschichtsphilosophie — was den dargestellten „Abschied von den Kriegsteilnehmern“ anbelangt, sogar in einem ganz strikten Sinne: Ortheil möchte die deutsche Geschichte im Medium des Romans als begriffene, als angeeignete, letztlich doch noch glückliche darstellen — und wird selbst zum Opfer einer romanhaften Idee.
Denn so wünschenswert es für den zeitgenössischen Roman auch sein mag, sich wieder stärker auf historische Realitäten einzulassen: Die Interpretation des politischen Endes der Nachkriegszeit als utopische „Zeitenwende“ kann nichts, aber auch gar nichts von dem Realismus einlösen, den Ortheil seit Jahren so lodernd propagiert. Ist sie doch selbst nur Ausdruck einer kaum verborgenen Wunschprojektion. Ortheil möchte dem Deutschen, das seinen Helden so obsessiv verfolgt, den dunklen schuldhaften Beiklang nehmen; mit dem Vater möchte er auch die Vergangenheit zu Grabe tragen, und damit sich und seiner Generation verspätet, aber endgültig den Dreck der Geschichte vom Hals schaffen.
Keine unverständliche Phantasie, das nicht. Doch so wenig wie '68 das Jahr der Revolution war, wird '89 als Geburtsstunde des guten Deutschen in die Annalen eingehen. Peinlich distanzlos wie sein Held, sieht Ortheil im geschichtlichen Datum nur sein eigenes Spiegelbild: ein Geschichtstourist am Zaun von Prag.
Gekommen ist es ohnehin anders. Daß es mit der Euphorie der Vereinigung noch schneller zu Ende gehen würde als mit dem Schreiben seines Romans, ist nicht Ortheils Schuld, aber ein weiteres Beispiel für das schnelle Altern der jüngeren Literatur. Väter und Söhne, womöglich noch in trauter Tateinheit mit Müttern und Töchtern vor deutschen Asylbewerberheimen — so hat sich das der Autor sicher nicht gedacht. Und trotzdem muß sein Epos sich daran messen. Schließlich ist es ja kein Märchen, sondern ein Roman, und auch den Roman bestraft, wenn er zu spät kommt, das Leben.
Hanns-Josef Ortheil: „Abschied von den Kriegsteilnehmern“.
Roman. Piper 1992, 412 Seiten,
42 DM.
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